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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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sich nachts zusammen, bilden Nester, Trauben und Kolonien und bauen Netze über Netze. Netze in mehreren Schichten, nebeneinander, nacheinander, in Etagen. Die chemische Zusammensetzung von Spinnenseide kann Steine angreifen, und webte man ein Hemd daraus, wöge es fast nichts und wäre doch um das Fünffache stärker als Stahl. So ein Hemd hätte ich gern, vor allem nachts. Hemd stammt von einem vergessenen Wort für Leib. An jedem Fronleichnamstag erklärte uns Joachim, dass in der zweiten Silbe von Leichnam ein althochdeutsches Hemd stecke oder zumindest herausgucke. Joachim machte Heidrun und mich bei Tisch gern auf sprachliche Besonderheiten aufmerksam und bedachte uns oft mit Sätzen und Versen aus der deutschen und angelsächsischen Literatur, die er durch erhobene Augenbrauen und rollendes Zungen-»r« als Zitate kenntlich machte. Ich mochte es lieber, wenn er mich belehrte, als wenn er mich etwas fragte und mich dann in meiner Antwort unterbrach, weil er fand, dass sie zu lange dauerte. Redezeit war etwas, das wie alles andere in seinem Haus gerecht verteilt werden musste, und zu viel war zu viel. Trotzdem studierte ich nicht wie Joachim Sprachen, die mich reizten und betörten, sondern Medizin, was mich interessierte, aber nicht mit Leidenschaft erfüllte.
    Vielleicht tat ich es aus Protest, vielleicht aus Feigheit. Joachim jedoch sah in meiner Entscheidung keine Abgrenzung. Er begrüßte mein Medizinstudium, das »schon Wilhelm Meister gut zu Gesicht gestanden« hatte. Ich bin Somnologin, der Schlaf ist mein Beruf. Ich heile Menschen, die nicht schlafen können oder die zu falschen Zeiten schlafen, Schlafwandler, Schnarcher, Schlafsüchtige.
    Aber nun bin ich doch wieder zu den Geschichten zurückgekehrt: Eine Kulturgeschichte des Schlafs – manchmal denke ich, dass ich mich mit der Schlafmedizin kein Stückvon dem entfernt habe, womit sich Joachim beschäftigt. Der Schlaf ist schließlich immer schon Gegenstand der Kunst gewesen, ja der Schlaf selbst ist eine Kunst. Wir Schlafforscher sind die Hüter einer knapper werdenden Ressource, und wir sind viele: Internisten und Pneumologen, Kinderärzte, Psychologen, Neurologen, Chrono-Biologen, Pharmazeuten, Physiker, Soziologen und Anthropologen.
    Ich hatte Joachim also gefragt, ob er mir nicht für meine Geschichte des Schlafs beim Kapitel zur Musik und Literatur in der englischen Renaissance helfen könnte. Und nach Grund war ich auch wieder zurückgekehrt.
    Ob ich Menschen zu sehen vermeine, weil sie tot sind? So etwas gibt es. Aus schulmedizinischer Sicht glaube ich natürlich nicht daran, aber das muss ja nicht bedeuten, dass es das nicht gibt. Ob Andreas tot ist? Vielleicht muss ich aber nur an ihn denken, weil ich das von den Spinnen gelesen habe. Und die Spinnen erinnern mich an die Frösche in Grund. Er kann das nicht gewesen sein in diesem Taxi, ich bin übernächtigt und träume deshalb am Tag. Letzte Woche glaubte ich sogar, Marthe auf dem Hauptbahnhof stehen zu sehen. Der Winkel eines langen Halses, der sich über eine Handtasche beugte. Als sie sich aufrichtete, war es eine Fremde.
    Was ist mit Marthe geschehen?
    Fortgeflogen. Oder ertrunken.
    Einzig Vögel können etwas gegen die Spinnen ausrichten, aber in der Hafencity gibt es keine Vögel. Der Stadtteil ist zu neu, fast eine Baustelle. Bäume gibt es noch nicht, also leben dort auch keine Vögel, und die Spinnen haben es gut. Fortwährend ergießen sich Jungtiere aus Kokons, fette Alte rennen lautlos über Eiweißfäden, die sich unter ihnen biegen, aber niemals reißen. Dabei berühren sie ausschließlich die strahlenförmigen Fäden. An den spiraligen würden sieselbst kleben bleiben. Die Umrisse der Brückenpfeiler werden bald unter dem grauen Gewebe verschwimmen, alle rechten Winkel bekommen weiche Bögen. Und wenn der Wind über den Fluss streift, wabern die Brücken, und die Mauern der Häuser zittern.
    Grund liegt in der Nähe von Karlsruhe. Wie eine Spinne saß einst der Markgraf im Karlsruher Schloss und überblickte sein Straßennetz. Es hieß, er sei im Hardtwald auf der Jagd gewesen. Ein großer Hirsch war ihm entwischt, was ihn verdross und ihm das Jagen für den Tag verleidete. Obwohl es noch früh am Morgen war, hing die Hitze schwer zwischen den hohen Bäumen. Müde winkte er dem Jagdgehilfen, er möge ihm vom Pferd helfen. Der Boden federte dumpf unter seinen hohen Reitstiefeln. Der Markgraf blickte nachdenklich auf den Waldboden, der von Kiefernnadeln bedeckt war. Wenn sich
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