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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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ich sei die Richtige für diese Aufgabe. Und ich dürfe natürlich alles schreiben, was mir noch zum Chor einfalle. Was mir einfällt? Wir sind zu sechst. Einfall, Zweifel, Trifle, vier Fälle, fünf Felle, sechs Fallen.
    Es gibt nicht viel über den Chor zu vermerken. Wir singen offenbar nur dieses eine Lied.

Müdigkeit birgt die Sehnsucht nach Schlaf und Schläfrigkeit den Wunsch, der Schlaf möge sich entfernen.
    Sind das Gefühle, Begehren oder körperliche Zustände? Liegen sie überhaupt an derselben Stelle im Gehirn? Und was ist schlimmer?
    Müdigkeit und Schläfrigkeit sind die beiden Außenkanten der Schwelle im Haus der Nacht. Jener ehernen Schwelle, auf der sich die Nacht und ihre Tochter Tag begegnen. Die eine betritt das Haus genau dann, wenn die andere es verlässt. Keine der beiden Frauen hat je mit der anderen mehr Zeit verbracht als diesen zweimal täglichen Gruß auf der Schwelle, aber immerhin wohnen sie zusammen.
    Ob eine eherne Schwelle so ähnlich aussieht wie die rostigen Stahlschwellen der alten Eisenbahnlinie hinter dem Haus meiner Eltern?
    Ich denke darüber nach, zu Orla hinüberzugehen, um zu schauen, ob sie schläft. Meine Tochter hat den perfekten Schlaf. Sie liegt auf dem Rücken, ihren Kopf etwas zur Seite gedreht. Die Augen sind geschlossen, und ihre Wimpern liegen weich auf den breiten Wangenknochen. Sie atmet langsam und tief durch die Nase und in den Bauch. Am Zucken ihrer Lider kann ich REM – Phasen und Tiefschlafphasen unterscheiden, sie hat von beiden genug. Ihr Mund ist geschlossen, aber ihre Kiefer ruhen locker beieinander, also knirscht sie nicht, klappert nicht, presst nicht. Sie wacht selten auf. Sie schlafwandelt nicht, sie redet und schreit nicht. Sie schwitzt nicht und wirft sich nicht im Bett herum. Sie ist ruhig, aber nicht katatonisch, und wenn sie morgens ihre braun-türkisfarbenen Augen aufschlägt, ist sie wach und frisch. Ich sehe ihr so gern beim Schlafen zu, ihre Schönheit bricht mir das Herz. Früher habe ich sie mir ins Bett geholt, wenn ich nicht schlafen konnte. Jetzt ist sie siebzehn, und ich bin froh, wenn sie überhaupt da ist.

    Aber dann stehe ich doch nicht auf, teils, weil mein Körper sich so schwer anfühlt, dass ich hoffe, gleich in den Schlaf zurückzufinden, teils weil das Schauen nach Orla, das Riechen an ihrem Haar und ihrer Haut erst später dran sind in der Ritual-Reihenfolge des Wiedereinschlafens. Es gehört zu den letzten verzweifelten Versuchen. Und so weit bin ich noch nicht. Noch lange nicht.
    Der Held in einem von Jean Pauls Büchern zählt vierzehn Mittel auf, die den Schlaflosen dazu bringen sollen, sich so zu langweilen, dass er gleich wieder in den Schlaf zurückfällt. Er gibt zu, dass sie allesamt nichts helfen, aber ich habe sie trotzdem abgeschrieben und den Zettel neben mein Bett gelegt. Ich greife nach dem Papier, nicht einmal jetzt muss ich Licht anmachen, ich kann die Punkte fast auswendig, wenn auch nicht im Schlaf:
    Zählen, natürlich, das ist sein erster Punkt. Töne fantasieren; sich Trauerlieder vorstellen; drittens, Silbendreschen, dabei nicht dichten, wohl aber Gedichte aufsagen. Träume weiterträumen; fünftens, das innere Nachtauge auf eine Morgenaue richten, ich wünschte, ich wüsste, wie das geht, es hört sich an, als ob es mir helfen könnte. Farben betrachten, die sich im Chaos-Stoff hinter geschlossenen Lidern bilden. Siebtens, nicht an die Arbeit von morgen denken. Gewiss, das ist hilfreich, aber da kann er genauso gut hinschreiben »siebtens, versuchen zu schlafen«. Achtens, den Körper in Bildern auszucken lassen, das klappt bei mir auch nicht, ich zucke mich meistens wach. Sich Substantive zufliegen lassen und aneinanderreihen; auf das Rauschen der eigenen Pulsader-Springbrunnen und Blutadern-Wasserfälle horchen; sich selbst irgendeine Historie erzählen. Das Buchstabieren unendlich lang gestreckter Wörter; mein Favorit: die fünf Finger, einen nach dem anderen, auf oder unter dem Deckbett auf- und niederbewegen; und vierzehntens, sich auf irgendeine angenehme Weise Langeweile machen.
    Die Mittel sind gut: nicht besonders aufregend, und doch kann das Hirn daran herumnagen wie ein Hund an einem alten Knochen. Ich taste mit der Zunge über den Hügel hinter den Schneidezähnen. Zwischen meinen Schneidezähnen ist kein Zwischenraum. Andreas hatte einen kleinen Zwischenraum. Bei Benno passte die Zungenspitze ganz durch. Es ist ein halbes Jahr her, dass ich seine Zungenspitze gesehen oder sie
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