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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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gefühlt habe, in meinem Mund, auf meinem Hals, auf der Innenseite meiner Oberschenkel und dazwischen, tief.
    Und Lutz’ Schneidezähne habe ich ebenso vergessen wie seine Zunge.

4.
    Dienstag, 3. September
    Anwesende:
    Joachim Feld, Ellen Feld, Orla Feld, Benno Hoffmann, Andreas Ritter und ich, Marthe Grieß.
     
    Das Inserat im Amtsblatt:
    »Chorleiter sucht erfahrene Sängerinnen und Sänger für Dowland-Lieder. Alle Stimmen willkommen, Notenkenntnisse erforderlich. Erstes Treffen am 3. September, 19 Uhr, im Grunder Rathaus, Hauptstraße 21, kleiner Saal, Eingang rechts die Treppe hinunter.
    Joachim Feld«
     
    Ich schaue, was mir auffällt, und schreibe danach ins Buch, was mir einfällt. Ich gebe zu, es gefällt mir. Joachim Feld hat recht, ich bin die Richtige dafür.
     
    Joachim: »Vielleicht werden es ja noch mehr.«
    Er rieb sich mit der Hand über Mund und Kinn. Seine Tochter schaute ihn zweifelnd an:
    »Dein Inserat war furchteinflößend, Papa. Ich bin nur hier, weil du mich mit dem Schlaflied geködert hast. Orla ist hier, weil sie uns einen Gefallen tun wollte. Andreas ist hier, weil er glaubt, dir einen Gefallen tun zu müssen. Nur Benno Hoffmann und Marthe Grieß –«,
    und sie wandte sich mir zu und lächelte entschuldigend,
    »– haben sich nicht abschrecken lassen von deinem hochmütigen Text.«
    Ich fragte Ellen: »Mit welchem Schlaflied hat er Sie denn geködert?«
    »Liebe Marthe Grieß«, rief Joachim, »das Lied wird Sie begeistern, Sie sind bestimmt wegen Dowland gekommen. Und Sie, Herr Hoffmann, sind Sie ein Chorsänger?«
    Herr Hoffmann zuckte zusammen.
    Er ist noch jung, höchstens Anfang dreißig. Ich glaube, er ist der Einzige, den keiner hier kennt.
    Alle musterten ihn.
    Benno Hoffmann: »Ja. Genau.«
    Er räusperte sich. »Also, zumindest ein bisschen.«
    Ellen Feld schaute ihn an und lächelte – weniger mit dem Mund als mit der Haut um ihre Augen. Er räusperte sich noch einmal. Ellens Falten wurden ein wenig tiefer.
    Joachim drückte jedem von uns ein Blatt in die Hand.
    »›Come, Heavy Sleep‹ von John Dowland, 1563–1626.«
    Ein hoher Stapel Blätter lag noch auf dem schwarzen Klavier. Er stopfte ihn in seine Aktentasche zurück. Offenbar hatte er mit dem halben Dorf gerechnet.
    Wir sollten uns duzen, sagte Joachim, das mache man so in Chören.
    »Wir singen alles auf Englisch?«, fragte Orla Feld. Sie klang erfreut. Andreas hatte die Stirn gerunzelt und blickte angestrengt in seine Noten.
    Joachim übersetzte den Text, er ist schließlich Professor für englische Literatur, seit ein paar Jahren im Ruhestand. Außerdem hatte er sich vorbereitet. Er zog eine Stimmgabel aus der Jackentasche und legte sie auf das Klavier, das an der Wand stand.
     
    Der Probenraum riecht muffig und säuerlich, nach verschwitzten Oberhemden und schlechtem Atem. Der Geruch steckt in den Raufasern der Tapete, klebt in den beigebraunen Vorhängen und dringt aus den Ritzen und Fugen des abgewetzten Parkettbodens. Montags probt hier der Kirchenchor.
    Joachim Feld nickte Orla zu: »Gefällt dir das?«
    Orla Feld sagte etwas auf Englisch, was ich nicht verstand, obwohl ich Englisch kann. Vielleicht war es wegen ihres irischen Akzents, denn Ellen Feld hat mit ihr in Irland gelebt, bevor sie beide im Frühjahr nach Grund zurückgekehrt sind.
     
    Ich betrachte Orla.
    Sie fällt mir auf.
    Ich bin nicht klein, selbst mein Mann war kaum größer als ich, aber gegen Orla fühle ich mich zart. Sie ist nicht dick, aber kurvig, barock. Nichts Teigiges, Aufgeschwemmtes ist an ihr, eher etwas Statueskes. Stattlich, das ist sie.
     
    Der Probenraum hat eine Reihe Fenster, die hinunter ins Tiefgestade blicken.
    Als Ellen versuchte, die Fenster zu öffnen, stellte sich Orla vor ihre Mutter und rief: »Stell sie alle auf Kipp! Hier stinkt es nach Männergesangverein.«
    Ellen: »Das kann man gar nicht weglüften.«
    Joachim schob mit Bennos Hilfe den alten Flügel aus der Ecke in die Mitte des Raumes.
    Joachim: »Ich denke, wir versuchen jetzt gemeinsam alle Stimmen auf ›do‹ zu singen. Jeder übt jede Stimme, damit nicht alle Soli singen müssen. Ich singe vor, und Sie, also ihr, singt mit, so gut es geht. Vielleicht kann ja der eine oder die andere vom Blatt singen.«
    Alle schauten auf ihren Notenzettel, schwiegen.
    Joachim: »Wir beginnen mit der Melodie. Sopran, h.«
    Joachim schlug einen G-Dur-Akkord an. Wir sangen alle vier Stimmen einmal durch. Danach fragte uns Joachim, in welcher Stimme wir uns am
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