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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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gewisse Zeit, bis ich merkte, dass sie meinen Gesichtsausdruck nachahmte, verzerrt zwar, aber doch gespiegelt. Ich war zutiefst beschämt und hielt bis zur nächsten Station meinen Kopf gesenkt. Dort stieg ich aus und wartete zehn Minuten auf die nächste Bahn.
    Wirklich, ich merke es nicht, wenn ich starre. Ob ich mich selbst für unsichtbar halte, seit wir in der Stadt wohnen? Ich versuche, in der U-Bahn zu lesen, aber ich muss mich zwingen, nicht bei jeder Haltestelle aufzuschauen. Wen erwarte ich zu sehen? Hier gibt es niemanden, den ich grüßen müsste.
    Ich habe vor zwei Wochen schon einmal geglaubt, Andreas gesehen zu haben, beim Einkaufen. Ich stand in der Schlange vor der Kasse und war mir fast sicher, dass er es war, als er bezahlte und mit einer Plastiktüte den Laden verließ. Mein Körper schien ihn noch vor meinem Gehirn wahrzunehmen. Denn ich verstand zunächst nicht, warum mein Herz so schnell schlug. Aber ob er es tatsächlich war, weiß ich nicht.
    Ob Benno mittlerweile gefunden hat, wonach er sucht? Er ist nicht verschwunden, aber trotzdem abgetaucht. Das schien es in Grund öfter zu geben, junge Männer tauchten auf und waren plötzlich weg, wie vom Erdboden verschluckt. Benno war gerade dabei, den Erdboden zu durchsuchen, als ich ihn das letzte Mal sah. Er war abgemagert, sein Haar fettig und zugleich verfilzt, und die Haut auf seinen roten, aufgequollenen Händen schälte sich wie eine Birke.

    Es ist gut, hier im Norden zu sein. Hamburg ist groß genug, um sich darin eine Zeit lang tot zu stellen. Schläfer nennt man solche Leute ja inzwischen. Ich versuche ein belustigtes Schnauben, doch die Dunkelheit meines Schlafzimmers, die Kissen und Decken schlucken das Geräusch und lassen es hilflos klingen.
    Nachts irren die U-Bahn-Gesichter durch die dunklen Schächte meines Gehirns und starren zurück. Orla macht es besser, sie setzt sich Kopfhörer auf und schaut aus dem Fenster. In den dunklen Tunneln schaut ihr Spiegelbild zurück. Aber dann starren wir doch wieder.
    Wir sind nur entwöhnt, Dublin ist schließlich auch eine große Stadt. Trotzdem: Im Vergleich zu Hamburg wirkt sie ländlich.
    Ich bin müde. Die Nacht hat die Ummantelung meiner Nervenbahnen wie mit einer Isolierzange abgezwickt, sie liegen jetzt brüchig und nackt in meinem Körper, und bei jeder Berührung gibt es einen Stromstoß. Nerven wie Spinnweben müsste man haben. Oder schlafen. Nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet. Vielleicht träumen. Ich werde hier aus der Bahn gelenkt. Hat Andreas überhaupt einen Führerschein? Ich kannte ihn eigentlich nur mit dem gelben Postfahrrad.
    Meine Zungenspitze auf der kleinen Wölbung hinter meinen Schneidezähnen ist schon wieder abgeglitten. Ich brauche Zeit, um mich an alles zu gewöhnen, die neue Arbeit, die Kollegen im Krankenhaus, Orlas Schule, die Gesichter aus der Bahn, die fremden Geräusche, den unvertrauten Dialekt. Die neue Wohnung im zweiten Stock dieses alten Hauses, unter dem ganz entfernt die U-Bahn brodelt. Bei Ovid wohnt der Schlaf unter einem Berg. Und es stimmt, Schlaf hat diese dritte Dimension, sogar die Somnologen sprechen vom Tiefschlaf. Der Schlaf ist ein Ort, zudem man hinabsteigt, eine Utopie der Tiefe. Der Gesang ist vielleicht auch eine, nur viel strahlender. Und ein Chor? Jedenfalls ist er keine Utopie, höchstens vielleicht der tapfere Versuch, eine Utopie zu verwirklichen, wenigstens für eine kurze Zeit. Der Chor, so Joachim, sei einst unverzichtbarer Bestandteil der Tragödie gewesen. Der Chor habe gemahnt und bemitleidet, beruhigt und betrachtet. Das seien die Aufgaben des Chores gewesen.
    Joachims Chor erfüllte keine dieser Aufgaben. Es fühlte sich zwar an, als wäre er Bestandteil einer Tragödie gewesen, aber dazu hätte es einer Fallhöhe bedurft. Doch wenn in dieser Gegend etwas fiel, dann fiel es flach, versickerte oder versandete.

5.
    Dienstag, 10. September,
    Joachim, Ellen, Orla, Benno, Andreas, ich.
    Come Heavy Sleep, Aussprache, Silbenverteilung.
     
    Mehr ist heute nicht gewesen, also schreibe ich, was mir einfällt.
     
    Letztlich geht es in dieser Geschichte nicht um mich. Und doch birgt dieser Satz schon viermal das Wort ich. Die Wörter sind immer schon in anderen Wörtern verkapselt. Wie ein verschluckter Fisch im Hals eines Graureihers. Wer genau hinschaut, kann erkennen, wie der Fisch in der engen Röhre zuckt.
    Aber der Graureiher birgt auch das Wort Ei, eine ganze Reihe von
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