Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
Autoren:
Vom Netzwerk:
 
    *
     
    »In Anbetracht der Tatsache, wie ihr euch hier aufführt, lasse ich euch den Vortritt.«
    Carl hatte uns mit der kleinen Pistole in der Hand vor sich her durch die Dunkelheit über den Hof gescheucht und wedelte nun, als wir das kleine Lehrerhaus erreicht hatten, mit dem Handscheinwerfer in Richtung der steinernen Stufen, die auf den Eingang zuführten. Nicht nur seiner Gestik, sondern auch dem Klang seiner Stimme ließ sich unschwer entnehmen, dass er tief in seinem Inneren nicht halb so cool und gelassen war, wie er sich zu geben bemühte. Ein leichtes Beben hatte sich in seine Silben geschlichen und auch sein hektisches Herumfuchteln mit der Lampe diente wohl eher dazu, das Zittern seiner Hände zu übertünchen, als uns tatsächlich den Weg zu weisen.
    Ich könnte ihn überwältigen, dachte ich bei mir, er war nervös und damit angreifbar, und nicht zuletzt hatte ich ohnehin noch eine Rechnung mit ihm offen. Ich tastete vorsichtig mit den Fingerspitzen nach der mächtigen Beule an meinem Hinterkopf, was umgehend mit einem stechenden, pulsierenden Schmerz quittiert wurde. Dieser aufgeschwemmte, hässliche Kerl hatte noch mindestens eine Gehirnerschütterung bei mir gut, wenn nicht gleich einen Schädelbasisbruch. Er hatte mich niedergeschlagen und verletzt, aber schlimmer noch als die Schwellung an meinem Hinterkopf schmerzte der tiefe Kratzer, den mein Ego aus meiner peinlichen Niederlage davongetragen hatte.
    Carl war nicht der Erste, der in meinem Leben auf mich eingedroschen hatte; in meiner späteren Jugend hatte ich mich nahezu an das Gefühl geballter Fäuste in meinem Gesicht gewöhnt. Ich hatte einfach ein unglaubliches Talent darin, mir aus Unbedachtheit und Dummheit Ärger einzufahren; und um überflüssige Wunden zu vermeiden, hatte ich nie ernsthaft versucht, mich gegen meine Kontrahenten, die in der Regel ohnehin größer und stärker gewesen waren als ich (zumindest aber in deutlicher Überzahl) zu wehren. Schließlich hätte ich letztlich ohnehin verloren – jede Gegenwehr hätte die Angelegenheit nach meiner Überzeugung nur in unnötige und qualvolle Länge gezogen oder meine Gegenspieler zusätzlich provoziert. So hatte ich es in solchen Situationen immerzu vorgezogen, jeden Hieb geduldig einzustecken und auszuharren, bis alles wieder vorbei war. Aber ich war auch noch nie so verzweifelt gewesen wie in dieser Nacht. Und ich war nie gezwungen gewesen, mich vor einer Frau zu schlagen, die ich liebte. Nun saßen Wut, Enttäuschung und Scham unendlich tief.
    Aber ich fiel nicht über Carl her, sondern griff nach Judiths Hand und zog sie gehorsam mit mir die Stufen zum Eingang hinauf, um den dahinter liegenden, stockfinsteren Korridor zu betreten. Der Wirt hatte kein Recht, uns so zu behandeln, und seine Nervosität beruhte vielleicht nicht einzig auf dem Umstand, dass wir in den vergangenen Stunden mit dem Tod dreier Menschen konfrontiert worden waren (vierer, wenn man das plötzliche, aber natürliche Ableben des jungen Rechtsanwalts miteinberechnete; aber nach den beiden schrecklichen Morden und Marias freiwilligem Sprung von den Zinnen hatte die Erinnerung an den Tod des Mannes in Carls Gaststätte deutlich an Schrecken eingebüßt, obgleich es die erste Leiche gewesen war, die ich in meinem Leben hatte sehen müssen). Niemand von uns konnte wissen, was uns in dieser Nacht noch alles widerfahren würde, und vielleicht plagte den Wirt ja auch sein Gewissen, weil er sich über sein Unrecht völlig im Klaren sein musste.
    Doch auch ich war nicht gerade in der besten körperlichen Verfassung für einen Kampf seit meiner Blinddarmoperation vor zwölf Jahren, und außerdem hatte der Althippie zumindest ein enorm überzeugendes Argument dafür, das Kommando über uns übernehmen zu dürfen: einen handlichen Metallbeschleuniger Kaliber 38, den er in der rechten Hand hielt, nämlich.
    Carl trat nach Ellen, Judith und mir über die Schwelle und leuchtete mit dem Strahl der Lampe an der hölzernen, alten Treppe, die zum Obergeschoss mit dem Rektorat hinaufführte, vorbei, und ich stellte ohne sonderliche Überraschung fest, dass es eine kleine Nische zur rechten Seite des unteren Treppenabsatzes gab, in deren linke Seite eine schmale Holztür eingelassen war.
    Obwohl ich mich nicht zu Ellen herumdrehte, konnte ich ihren skeptischen Blick fast körperlich in meinem Nacken spüren. Ich hatte niemandem erzählt, dass es auch von hier aus einen Zugang zum Keller gab, obwohl es meine Aufgabe gewesen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher