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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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anderen Wörtern, darunter die Gier und die Ruhe. Also nicht allein, dass wir beim Sprechen von Wörtern andere Wörter mitdenken, nein, die Wörter selbst denken andere Wörter mit. Zudem ist jedes Wort für jeden anders, und so bleibt Sprache für immer etwas Verstecktes, und niemand weiß, wer sich wem auf welche Weise mitteilt.
    Deshalb bin ich Deutschlehrerin geworden, Deutsch als Fremdsprache.
    Wenn eine Gruppe von Menschen eine fremde Sprache lernt, gibt es für kurze Zeit tatsächlich so etwas wie eine reine Verständigung.
    Das ist ein Vogel.
    Dies ist ein Füllfederhalter.
    Wo bist du?
    Ich bin hier.
    Wo ist er?
    Er ist nicht da.
    Doch irgendwann trübt es sich wieder, und die Dinge und Wörter verschlucken sich gegenseitig. Ich habe noch Zeit für diese eine Geschichte. Dies ist die Geschichte meines Chores, auch er wird sich auflösen. Aufgelöst ist ein sanftes Wort. Der Mund öffnet sich weit zu einem a, aber nur ganz kurz, bevor er sich mit dem u zu einem Klagelaut zusammenzieht und die Luft auf dem f hinausseufzt. Erst jetzt liegt der Kern des Wortes frei. Locker rollt sich die Zunge mit dem l um ein ovales ö und lässt rasch, wenn auch ohne Hast, wieder los. Im st entweicht kaum noch Luft, nichts staut sich oder platzt, das Wort findet ein leises Ende. Lösen, lose, losgelöst: Sang- und klanglos ist der Chor auseinandergegangen. Lose bedeutet frei und, ja, auch verworfen, und so ist schon in diesem einen Wort meine Geschichte ganz enthalten wie die Gestalt des Baumes im Gerippe eines seiner Blätter.

Ich warte auf den Schlaf. Komm, schwerer Schlaf. Schwerer Schlaf hört sich tiefer an als tiefer Schlaf, aber auch ernster, traumgesättigt, beinahe eine Last. Aber doch so ersehnt wie das Gewicht des Liebhabers, das sich schwer auf meinen Körper legt. Benno war schwer, Andreas schwerer, aber nicht mein Liebhaber.
    Nachdem Lutz aus Grund verschwunden war, ging ich nach Dublin, und als ich in den nächsten Sommerferien meine Eltern besuchte, war aus Andreas ein Sonderling geworden. Er war immer schon einer von den Stillen gewesen, aber jetzt sprach er gar nicht mehr. Er studierte auch nicht mehr Kartografie. Den Postbotenjob, den er nur zum Geldverdienen in den Semesterferien angenommen hatte, behielt er einfach. Er trug Briefe aus und sammelte Zettel. Er hob sie auf und behielt sie. Er hatte einen Schatten, einen Sprung. Er war nicht stumm, er konnte schließlich singen. Aber er sprach nicht mehr. Mit niemandem und mit mir schon gar nicht.
    Früher waren wir unzertrennlich, wie Geschwister. Er hatte keine und ich auch nicht, wir waren gleich alt, seit der Grundschule in der gleichen Klasse, und wir wohnten nicht weit voneinander entfernt. Er kannte sich gut aus. Im Wald wusste er, wo der größte Ameisenhügel war, und zeigte mir, wie man auf der Ölpumpe balancieren konnte, während sie auf- und niederstieß. Unten im Tiefgestade wusste er, wo die Graureiher standen, wo wilde Orchideen wuchsen und wo es massenhaft Froschlaich gab. Wir schauten jedes Jahr nach dem Froschlaich, Geleeperlen, nicht fest, nicht flüssig. Ein Konglomerat von Mikrokosmen, ein gigantisches und zugleich winziges Planetensystem. Ich fragte mich, ob die Erde, der Mond, die anderen Planeten, die gesamte Milchstraße nicht auch nur ein großer Klumpen Froschlaich waren. Nicht dass die Erde ein einzelnes Ei gewesen wäre, nein, der schwarze, weiche Kern in der Mitte war das gesamte Sonnensystem, und der Gelee drum herum so etwas wie die Stratosphäre, und alle anderen schwarzen Punkte waren andere Planetensysteme, Millionen und Abertrilliarden. Der Froschlaich lehrte mich die Unendlichkeit.
    Andreas kannte einen unterhöhlten Baumstumpf, unter dem er aufbewahrte, was er im Wald fand, einen Wildschweinhauer, ein Taschenmesser, die Haut einer Ringelnatter, eine fast volle Flasche Gordon’s Gin, mehrere Knöpfe, zwei Pornohefte, Luftgewehrpatronen, ein Eichhörnchenskelett, einen Reiherschnabel und noch einige andere Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Nachdem ich nach Irland gegangen war, Declan kennengelernt und Orla bekommen hatte, verbrachte ich die meiste Urlaubszeit in Grund, aber mit Andreas bin ich nie wieder herumgelaufen, nicht im Wald, nicht am Rhein, nicht am See. Wir sahen uns kaum noch, und reden konnten wir auch nicht, weil er es ja auf einmal vorzog, zu schweigen. Erst dachte ich, er spreche nur mit mir nicht mehr, aber nach und nach merkte ich, dass er ganz damit aufgehört hatte. Als Ärztin wollte
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