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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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die Blätter in den Buchen bewegten, huschten Lichtflecken über seine Hände und Beinkleider. Der Markgraf schloss kurz die Augen. Er befahl dem Gehilfen, eine Decke auf den Boden zu breiten, und ließ sich darauf nieder. Er war ein wenig steif vom langen Reiten wie auch von der schneidigen und darum etwas engen Uniform. Er zog die Jacke aus, knüllte sie sich unter den Nacken und blinzelte hinauf in die Baumkronen. Vereinzelt stießen milchige Sonnenstrahlen durch das Laub, und alles, was hindurchflog, Staub, Fliegen, Samenschirmchen, verwandelte sich in Gold. Und kaum war der Markgraf in den Schlaf gefallen, träumte ihm von einer Stadt, die selbst war wie die Sonne, heiß und golden und ihre Straßen wie Strahlen. Und er träumte sich selbst in die Mitte dieses gleißenden Universums, träumte sich in ein Lichtschloss, ein badischer Sonnenkönig in einem goldenen Reich, in welchem Milch und Honig in langen Bahnen aus dem Himmel selbst zu fließen schienen. Und als er aufwachte, fühlte er sich ganz verjüngt,ließ sich einen Becher Riesling reichen und ritt, obgleich es kühler geworden war, ohne Jacke heim.
    Im darauffolgenden Monat ging der Markgraf abermals in den Wald, um den Hirsch zu erlegen, jedoch das Tier war verschwunden und kam nie mehr wieder. Das deutete der Markgraf als Zeichen dafür, dass der Hirsch ihm den Ort seiner Ruhe nur hatte weisen sollen und dass der Traum eine Prophezeiung gewesen war. Der Gehilfe sagte nichts dazu, sondern klatschte nur einige Male mit der Reitgerte auf seine neuen, hirschledernen Stiefel.
    Auch die List, mich mit Geschichten zum Einschlafen zu bewegen, klappt nicht. Denn die Listigen sind immer die Wachsamen. Möglicherweise überliste ich mich selbst, indem ich mich vor dem Schlaf drücke. Schützt mich meine Schlaflosigkeit vielleicht vor dem kommenden Erwachen?
    Durch zu viel Schlaf, sagte mir vorgestern ein Kollege aus Botsuana, habe die listige Schlange ihre Füße verloren. Dann warf er einen langen Blick auf meine ausgelatschten Krankenhausclogs und lachte. Ich mag ihn, wir ziehen uns gern gegenseitig auf, aber er ist Somnologe. Genau wie die anderen merkt er, was mit mir los ist. Noch habe ich keine größeren Fehler bei der Arbeit gemacht, ich bin nur viel langsamer geworden und muss daher länger arbeiten, und dann komme ich spät nach Hause, und da wartet Orla, und an die Schlafgeschichte will ich gar nicht denken, ich muss morgen früh raus.
    Wie lange kann ich noch durchhalten?
    Die meisten Patienten halten lange, sehr lange durch. Ob das gut oder schlecht ist, vermag ich nicht zu sagen. Es ist vor allem lang.
    Schlangen, Spinnen, Ochsenfrösche, selbst für einen Albtraum wäre ich dankbar. Meine Zunge ist längst von meinen Schneidezähnen abgeglitten. Ich lege sie wieder dorthin zurück. Ich werde wieder schlafen. Irgendwann schläft jeder wieder ein.
    Heidrun ist nicht mehr erwacht. Sie schlief und schlief, nur entschlafen konnte sie nicht.
    Am Ende ist sie verhungert. Da war es schon Winter.

3.

    Komm, schwerer Schlaf, Abbild des wahrhaftigen Todes;
Und schließe meine müden, weinenden Augen zu:
Deren Tränenquelle meinen Lebensatem staut,
und mir das Herz zerreißt mit von Seufzern angeschwollenen Schreien:
Komm, und ergreife meine erschöpfte, gedankenzermürbte Seele,
die so lange lebendig stirbt, bis du dich endlich zu mir stiehlst.
    Komm, Schatten meines Endes und Umriss der Ruhe,
Verbündeter des Todes, Kind der schwarzgesichtigen Nacht:
Komm du und beschwöre die Aufrührer in meiner Brust,
deren beunruhigende Fantasien meinen Kopf mit Angst erfüllen.
Komm, süßer Schlaf, komm, oder ich muss für immer sterben,
komm, ehe mein letzter Schlaf kommt, oder komm niemals mehr.
     
    Ich habe das Chortagebuch.
    Ich muss mich zusammenreißen, das Gegenteil von auflösen. Reißen ist über ritzen mit write verwandt. Geritzt, geratzt, komm, schwerer Schlaf, ich will mich zusammenreißen, indem ich das hier schreibe.
    Das Buch ist eine dunkelgrüne Kladde, in der ich festhalten soll, wer alles da war, was wir geübt haben und woran wir weiterarbeiten müssen. Als Joachim Feld mich darum bat, es für den Chor zu führen, habe ich Ja gesagt. Es war zu erwarten, dass er mich auswählen würde: die unauffällige graue Dame unbestimmten Alters, aber bestimmt jenseits von Gut und Böse. Ellen, seine Tochter, hat genug zu tun, seine Enkelin Orla ist nicht ordentlich genug, und die beiden Männer hätte er sich nicht getraut zu fragen.
    Er glaube,
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