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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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Tochter heimgekommen, und ich habe mich gezwungen, nicht gleich zu ihr zu rennen, mit ihr zu reden und dabei heimlich zu prüfen, ob sie nach Rauch riecht, nach Alkohol, nach Marihuana oder Sex. Ob ihre Pupillen erweitert oder verengt sind, das Kleid falsch geknöpft, ihre Sprache schleppend und was man eben alles noch so wissen möchte. Allerdings habe ich gerade auf der Toilette an ihrem grauen Schal geschnüffelt. Sie lässt immer irgendetwas im Flur und im Bad liegen, wenn sie spät nach Hause kommt, Kleiderzeichen, damit ich gleich sehen kann, dass sie heil zurück ist. Ich mache es genauso für sie. Den Schal hat Joachim ihr geschenkt, aber ich habe ihn ausgesucht. Es ist ein großes gestricktes Dreieck mit löchrigem Muster aus zarter grauer Wolle. Durch Parfüm, Rauch, Kiez und U-Bahn kann ich meine Tochter darin riechen.

    Vor drei Jahren nahm ich mein vierzehnjähriges Kind aus der deutschen Schule in Dublin und ging zurück nach Grund. Dass ich wieder an den Ort zog, aus dem ich kam, war nicht geplant, aber aus Dublin wollte ich schon länger fort. Declan war ein guter Mann, aber es klappte nicht mehr zwischen uns. Er kiffte zu viel, er trank zu viel, er war zu viel weg, er hatte zu viele Liebschaften. Ich selbst wurde immer zynischer und zickiger, und wenn ich zufällig in einem dunklen Fenster, einem Toilettenspiegel, einer Umkleidekabine auf mein Gesicht stieß und meine dauerhaft zusammengepressten Lippen sah und irgendwann auch noch die zwei Längsfalten über der Nase, erschrak ich. Ich war inzwischen zu alt für einen Musiker, dessen lange braune Haare immer länger und immer dünner wurden, der es liebte, mit mehreren anderen in Tourbussen zu schlafen, und der immer noch glaubte, Unzuverlässigkeit sei eine notwendige, womöglich sogar hinreichende Eigenschaft einer Künstlerpersönlichkeit. Jetzt bin ich ungerecht. Er ist ein großartiger Musiker, er spielt Bodhrán und Schlagzeug und Cajon, und ich liebte seine rastlosen Hände. Den ganzen Tag trommelte er auf allem herum, was eine Oberfläche hatte, Tische, Stuhlrahmen, Wände, Oberschenkel. Er tat es nicht aus Nervosität. Die Dinge schienen für ihn erst ihre Form und Beschaffenheit zu erlangen, nachdem er sie abgeklopft hatte. Selbst wenn er sich eine Scheibe Brot auf den Teller legte, schlugen seine Hände zwei-, dreimal darauf herum, bevor sie nach dem Messer griffen. Einmal fragte ich ihn, ob er auf diese Weise herausfinden wolle, ob er Käse oder Marmelade wünsche. Er schaute mich nur verständnislos an.
    Declan war ein liebevoller Vater, unbeständig, aber begeistert. Doch ich fühlte mich zu jung, um mich immer so alt fühlen zu müssen. Ich hatte ihn kennengelernt, da war ich schwanger. Er begleitete einen seiner jüngeren Brüder indas Krankenhaus, in dem ich ausgebildet wurde. Der Bruder litt unter Schlaflosigkeit, aber vor allem war er tablettenabhängig. Ich versuchte, mit ihm allein zu reden, aber er bestand auf Declans Anwesenheit. Declan wurde wütend, als ich die Schlaflosigkeit als Folge der Tablettensucht deutete. Er trommelte auf meinem Schreibtisch herum und machte mit leiser Stimme schneidende Bemerkungen über die Inkompetenz viel zu junger Ärzte, die die Schuld bei den Patienten suchten. Er verließ das Sprechzimmer mit zusammengekniffenem Gesicht, schloss die Tür hinter sich und seinem Bruder, und dann hörte ich, wie er draußen auf dem Gang seinen Bruder anbrüllte. Am nächsten Tag brachte er mir zwei Konzertkarten für denselben Abend vorbei. Ich ging mit einer Kollegin hin. Als er uns im Publikum sah, verbeugte er sich von der Bühne herab.
    Declan behandelte mich nicht wie eine Schwangere, obwohl mein Bauch im siebten Monat nicht zu übersehen war, sondern immer wie eine Frau. Gut, wie eine Frau, die schwanger war, aber weder mit Ehrfurcht noch mit Verachtung, noch als neutrales Fötengefäß. So viele Menschen fühlen sich beim Anblick einer schwangeren Frau befugt, ihren Bauch zu befingern, das Körpergewicht zu erfragen oder sich zu erkundigen, ob man rülpsen muss oder kacken kann. Declan fragte mich nur, ob ich etwas trinken wolle, und später, ob ich mit ihm tanzen würde.
    Ich verliebte mich in ihn, ganz langsam. Seine irische Musik rührte mich, und ich bewunderte ihn für die Hingabe, mit der er spielte. Nach ein paar Wochen schliefen wir miteinander. Er wollte es schon viel früher. Doch ich war verschämt wegen meines Bauches. Irgendwann sagte ich mir, dass mein Verlangen nach ihm ebenso wachsen
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