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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden
Autoren: Katharina Hagena
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von dunklem Weiß. Ich konnte nicht aufhören, mit den Augen ihr Gesicht abzutasten. Jedes Mal, wenn ich die Hand auf ihre kalte Stirn legte, erfasste mich derselbe Schwindel. Von ihrer spitzen Nase verliefen tiefe Kerben bis zu den Mundwinkeln. Die Haut war in den Wochen vor ihrem Tod das Lebendigste in Heidruns Gesicht gewesen. Sie pulsierte und verzog sich bei jedem Geräusch, Geruch, bei jeder Berührung. Immer zuckte etwas, verschob sich, arbeitete.
    Nachdem sie zehn Wochen in einem schlafähnlichen Zustand verbracht hatte, wusste ich, dass der Tod, wie er sich mir in der Friedhofshalle bot, dem Schlaf nicht im Geringsten ähnelte. Der Schlaf war zwar wie der Tod ein Sohn der Nacht, aber die Nacht hatte mindestens zwei Dutzend Kinder, eines düsterer als das andere, also wessen Bruder war er nicht? Aristoteles hielt im Übrigen auch nicht viel von dieser Zwillingsbrudergeschichte. Für ihn hatte Schlaf etwas mit Stoffwechsel zu tun, also mit Leben.
    Ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen, schalte aber kein Licht an. Die Wegbeleuchtung des Nachbarhauses blendet mich. Immer blinkt etwas, Autoscheinwerfer, kaputte Straßenlaternen, Leuchtreklamen von gegenüber, das Blaulicht, die Bewegungsmelder an den Häusern, die schon angehen, wenn eine Katze vorbeirennt oder ein Marder unter ein Auto schlüpft. Ich muss unbedingt richtige Rollläden kaufen, die weißen Lamellen werden nachts selbst zu Lichtquellen.
    Dumpf hallen meine Füße über den hölzernen Flur. Dem kalten Kunststoff an meinen Oberschenkeln und den eisglatten Kacheln unter meinen bloßen Füßen weichen die letzten Schwaden warmer Schlaftrunkenheit. Wach sein heißt nüchtern sein. Dazwischen gibt es jedoch noch die Luzidität der Übermüdung, jene Halbschattenwelt derSchlaflosen, der Überwachen und Untoten mit den schweren roten Lidern und grauen Gesichtern, immer auf dem Sprung in die Welt des Schlafs, aber nie dort ankommend. Immer im Transitbereich. Vielleicht schaffen sie es ja mit dem nächsten Nachtflug.
    Diese Stadt ist eine einzige Wartehalle. Sie ist wie geschaffen für die Schlaflosen, überall wird hier gewartet, auf Bahnhöfen, vor dem Elbtunnel, öffentlichen Damentoiletten, Bushaltestellen, Flughäfen. Hier waten wir knietief durch die totgeschlagene Zeit.
    Heidruns Augen sanken langsam in ihre Höhlen.
    Der Schlaf bewohnt eine dunkle Höhle in der Unterwelt. Oben haben die Wachen ihre gemeinsame Welt, und nur im Schlaf wendet sich jeder seiner eigenen Welt zu. Aber ich weiß, wo sich die Zwischenwelt der Schlaflosen befindet: im Wartezimmer, in meinem Wartezimmer.
    Morgen muss ich um sieben Uhr aufstehen, um acht bei der Arbeit sein, ich muss versuchen, gleich weiterzuschlafen, heute Nacht klappt es bestimmt. Ich klappe den Deckel herunter, alles Offene ist eine Quelle der Beunruhigung, auch offene Toiletten. Eine Luftblase im Abflussrohr könnte platzen, eine Kanalratte aus der Schüssel emportauchen. Was unterirdisch ist, kann nach oben schwimmen, offene Klodeckel, offene Türen, offene Fragen, nur nicht zu viel nachdenken, ich muss so tun, als schliefe ich noch. Ich entdecke jetzt erst Orlas grauen Wollschal, der über dem Handtuchhalter neben dem Waschbecken hängt, halte ihn mir ans Gesicht und atme tief ein. Das wird mir in den Schlaf helfen. Ich schließe leise die Tür und laufe auf Zehenspitzen zurück ins Schlafzimmer. Meine Schritte sind leicht, das ist kein gutes Zeichen. Ich bin schon viel zu wach, fast hüpfe ich, schlecht, schlecht. Ich versuche, mich schwer zu machen, den Widerstand meines Körpers gegen die unaufhaltsame Wachheitmeines Kopfes zu stärken. Die Übernächtigten sind allzeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewusstlos zugleich. Vielleicht sollte ich diesen zornigen Satz in die Einleitung meines Buches schreiben, die ich nicht schreiben kann, nicht zuletzt wegen meiner chronischen Übermüdung, meiner Tagesschläfrigkeit, so heißt der Fachausdruck. Wenn ich morgens ins Krankenhaus gehe und mein Sprechzimmer im Schlaflabor betrete, alert und bewusstlos zugleich, fühle ich mich trunkener als nachts um vier auf dem Weg zurück ins Bett.
    Ich drehe die Decke um, damit die kühle Seite auf meiner Haut liegt. In aufgewärmte Betten krieche ich nicht gern. Meinen Geliebten ließ ich in Grund, aber in einem Bett haben wir nicht ein einziges Mal geschlafen. In Grund habe ich nichts mehr zu suchen. Nur verloren, das schon.
    Aber Orla, die habe ich. Sie schläft.
    Um Mitternacht ist meine
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