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Nordmord

Titel: Nordmord
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1

     
    Als Irina den Wagen auf den Hof fahren hörte,
wurde sie von einer unbeschreiblichen Angst ergriffen. Ihr Herz raste, jeder
Muskel ihres Körpers spannte sich bis zum Zerreißen, sie spürte, wie es
zwischen ihren Beinen plötzlich warm und feucht wurde. Sie hatte Angst.
    Die beiden Männer waren vor einigen Wochen schon einmal da
gewesen. Ihre Mutter hatte lange mit ihnen in der Küche gesprochen. Sie hatte
versucht, das Gespräch zu belauschen. Vorsichtig war sie zu der nur angelehnten
Küchentür geschlichen. Doch die Männer hatten in einer Sprache gesprochen, die
Irina nicht kannte. Nach einer Weile hatte man nach ihr gerufen. Eine schwarze
Ledertasche hatte auf dem Tisch gestanden, aus der einer der Männer eine
Spritze hervorgeholt hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, alle Kinder im Dorf
müssten Blut spenden, aber Irina hatte an ihren Augen erkannt, dass sie log.
    Als es an der Tür klopfte, versteckte sie sich unter dem
Bett. Die Knie zog sie bis unter ihr Kinn, versuchte, sich klein und unsichtbar
zu machen. Sie hörte Schritte.
    »Irina?«
    Es war die Stimme ihrer Mutter. Sie drehte sich im Raum
herum, ging in die Knie und entdeckte die Tochter unter dem Bett.
    »Irina, komm heraus! Wir haben Besuch.«
    Sie zerrte ihre Tochter am Arm unter dem Bett hervor. Alle
Gegenwehr war zwecklos. Die Mutter war stärker.
    Als Irina den Kopf unter dem Bett hervorhob, sah sie den
großen, dunkelhaarigen Mann in der Tür stehen. Sein Mund verzog sich zu einem
schmierigen Grinsen. Ein Goldzahn blinkte in der unteren Zahnreihe.
    Sie war wie gelähmt; konnte nur auf diesen Goldzahn starren.
Aus dem Mund des Mannes kamen Worte in der ihr unverständlichen Sprache. Ihre
Mutter jedoch nickte. Der Mann holte hinter seinem Rücken eine Spritze hervor.
Irina wollte sich wieder unter das Bett flüchten, doch ihre Mutter hielt sie so
fest, sie konnte sich nicht aus der Umklammerung befreien. Dann spürte sie
einen Stich. Sie schlug um sich, versuchte, sich zu befreien, aber alle Kraft
schien plötzlich aus ihrem Körper zu weichen. Ihre Beine gaben nach, sie sackte
zusammen. Nur noch verzerrt nahm sie das Gesicht ihrer Mutter wahr.
    »Mama?«
    Eine unsichtbare Macht drückte mit aller Gewalt ihre Augenlider
nieder, eine unergründliche Dunkelheit hüllte sie ein.

     

2

     
    Es war kurz nach 18 Uhr. Marlene schlug das Buch
zu, in dem sie gelesen hatte, und stand auf.
    Ihre Kollegin war bereits gegangen. Marlene nahm ihre Jacke
und verließ ebenfalls das Büro. In 20 Minuten war sie mit ihrer Freundin Heike
im ›Ulmenhof‹ verabredet.
    Vor dem Gebäude der alten Volksschule, in dem seit 1990 das
›Nordfriisk Instituut‹ untergebracht war, suchte sie in ihrer Handtasche nach
dem Autoschlüssel.
    Sie arbeitete seit fast einem Jahr an einem Projekt des
Instituts über Theodor Storm und nebenbei als ehrenamtliche
Bibliothekshelferin. Das Angebot, am Institut zu arbeiten, war damals
zeitgleich mit der Frage ihres Freundes, ob sie nicht zu ihm ziehen wolle,
gefallen. Sie hatte nicht lange überlegt und zugestimmt. Nun wohnte sie bei Tom
in Risum-Lindholm und fuhr dreimal in der Woche nach Bredstedt ins Institut.
Die Arbeit gefiel ihr sehr gut. Es machte ihr Spaß, das Leben und Werk des
Heimatdichters zu erforschen. Nur in ihrem neuen Zuhause hatte sie sich noch
nicht ganz eingelebt. Tom hatte das Haus von seinem Onkel geerbt. Es war alt
und renovierungsbedürftig. Zwar hatte er schon viel gewerkelt, aber es blieb
trotzdem noch jede Menge zu tun.
    Marlene lenkte den Wagen durch das Tor, die Einfahrt zum
›Ulmenhof‹ hinauf und parkte auf dem kleinen Vorplatz. Heikes Wagen war nicht
zu sehen. Sie schien sich mal wieder zu verspäten.

     
    Sie stieg aus und überlegte, ob sie auf dem
Parkplatz auf ihre Freundin warten sollte. Das Wetter war schön, die Herbstsonne
hatte den ganzen Tag kräftig geschienen und ließ sich nur langsam von der
heraufziehenden Abenddämmerung vertreiben. Sie schlenderte zum Restaurant
hinüber und setzte sich auf eine der Steinstufen vor der Eingangstür.
    Eine schwarze Katze kam gemächlich um die Haus-ecke
gestreunt. Schnurrend streifte sie um ihre Beine.
    Inzwischen war es 19 Uhr.
Marlene stand auf. Aus ihrer Jackentasche holte sie ihr Handy. Eigentlich hatte
sie schon vor geraumer Zeit das Mobiltelefon wieder abmelden wollen. Es war ihr
zu teuer und manchmal sogar lästig, immer und überall erreichbar zu sein. Ihre
Mutter hatte es ihr zum
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