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Nachtmahl im Paradies

Nachtmahl im Paradies

Titel: Nachtmahl im Paradies
Autoren: Bennett Ben
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»Haben die Herrschaften gewählt?« Jacques bemerkte einen unschönen Schweißfleck von der beeindruckenden Größe Französisch-Guayanas auf seinem schwarzen Hemd, als er die Bestellung an dem einzigen besetzten Tisch aufnahm. Nun, es war Sommer. Da passierte so etwas schon mal.
    »Mathilde?«
    Der Gast mit dem Strohhut und dem gezwirbelten Bart warf einen Blick hinüber zu seiner Begleiterin, einer Brünetten, zart wie eine norwegische Forelle und mit Gesundheitssandalen an den nackten Füßen.
    »Nun«, zwitscherte diese mit prüfendem Blick in die Speisekarte vor ihrer Nase, »wir hätten gerne beide den hausgebeizten Wildlachs mit konfitierter Roter Bete und Meerrettichmousse. Als Hauptgang dann das Wachtelkotelett mit Aprikosentarte, Selleriemousseline und sautierten Pfifferlingen. Danach sehen wir weiter.«
    Jacques stockte der Atem. Eine unangenehme Stille erfüllte die auf das Meer hinausgehende Restaurantterrasse, begleitet vom Klang der sanft an den Strand laufenden Wellen. Bis der pausbäckige Zwirbelbart, der während der Bestellung seiner Begleiterin melancholisch, als müsse er gleich unendlich tief seufzen, die französische Kolonie auf Jacques’ Hemd gemustert hatte, schließlich losprustete.
    »Sie müssen entschuldigen, maître , meine Frau beliebt zu scherzen. Wissen Sie, wir waren schon mal hier, vor etlichen Jahren. Damals hieß das Restaurant noch anders, und hier wurde Haute Cuisine serviert. Aber keine Angst: Heute sind wir mit etwas Deftigem zufrieden. Wir haben Hunger!«
    Zufrieden rieb er sich die Hände. Schließlich konnte er nicht ahnen, dass in diesem Restaurant selbst die einfachsten Dinge nicht zwangsläufig begeistern mussten.
    »Er sagt es«, ergänzte die Brünette mit einem koketten Augenzwinkern. »Also nehmen wir den Kalbsbraten mit Kroketten in Pfefferrahmsoße. Davon abgesehen muss ich sagen, dass der Meerblick von hier oben nach wie vor atemberaubend ist. Einfach paradiesisch.«
    Zumindest dieses Lob, abgesehen von der für seinen Geschmack etwas unglücklichen Wahl des letzten Wortes, nahm Jacques erleichtert zur Kenntnis. Um ein Haar wäre ihm tatsächlich das Herz stehengeblieben. Er schätzte es nicht, auf diese Weise an die Vergangenheit erinnert zu werden. Er wusste es ohnehin – wozu noch solche unter die Gürtellinie zielenden Attacken? Die Fakten lagen so klar auf dem Tisch wie die einst berühmte Ochsenschwanzsuppe des Hauses. Ohne den hinreißenden Meerblick wäre sein über alles geliebtes Paris nur die Hälfte wert. Widerwillig hatte er dies zur Kenntnis genommen. Doch ob die bezaubernde Aussicht allein genügen würde, um diesen märchenhaften, von der Welt im Grunde noch immer angebeteten Ort vor dem Untergang zu bewahren? Ebenso wie die geschichtsträchtigen, nie restaurierten, dafür aber von kostbaren Erinnerungen tapfer gestützten Mauern, die ihm alles bedeuteten? Das stand seit gestern in den Sternen.
    Dem Gerichtsvollzieher war nichts anderes übrig geblieben, als mit betrübter Miene festzustellen, dass er und alle anderen diesen dunklen Tag bereits vor langer Zeit hatten heraufziehen sehen. Dass die Katastrophe mit der Verwandlung ihren Anfang genommen hatte. Den Anfang vom Ende sozusagen. Damals hätte man sofort gegensteuern müssen – jetzt war es dafür offensichtlich zu spät. Nun denn: Es lag bereits mehr als sechs, um der Wahrheit die Ehre zu geben, fast sieben Jahre zurück, dass dem Paradies ein paar Buchstaben abhandengekommen waren und es sich sozusagen über Nacht in Paris verwandelt hatte. Ein verheerender Sturm, der in der Dunkelheit über die Küste gezogen war, hatte die Buchstaben a, d und e abgerissen, die nicht zufällig zusammen das Wort »Ade« ergaben und sich in jener Nacht für immer von ihrem angestammten Platz verabschiedet hatten. Übrig geblieben war ein mit den Jahren immer schäbiger gewordenes Paris , das musste Jacques eingestehen. Ein Paris , das außer der in einer überaus eleganten Schreibschrift verfassten, nun lückenhaften rosafarbenen Neonreklame über dem Eingangstor kaum noch etwas gemein hatte mit dem ehemals strahlend weiß getünchten und mittlerweile ebenso abgeblätterten wie abgewirtschafteten Paradies .
    Er und seine Elli hatten das Restaurant am Ufer der wildromantischen Atlantikküste über zwei Jahrzehnte lang zur vollen Zufriedenheit ihrer Gäste geführt. Eine Weile hatte sogar ein Stern das Paradies erleuchtet – jener von Michelin, der für alle, die mit Leidenschaft kochen, heller leuchtet
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