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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Prolog
    Tamara saß vor einem Teller mit glibberigem Spiegelei und aß, noch ganz in ihren Traum vertieft.
    Ihre Mutter Raissa Iljinitschna führte mit zärtlicher Hand einen grobzinkigen Kamm durch Tamaras Haar, bemüht, nicht allzu heftig an dem lebendigen Filz zu zerren.
    Das Radio spie feierliche Musik, aber nicht sehr laut, denn hinter dem Wandschirm schlief die Großmutter. Plötzlich verstummte die Musik. Dann eine auffällig lange Pause. Schließlich ertönte eine bekannte Stimme:
    »Achtung! Hier spricht Moskau. Angeschlossen sind alle Radiostationen der Sowjetunion. Wir verlesen eine Regierungserklärung …«
    Der Kamm erstarrte in Tamaras Haar, sie selbst war schlagartig wach, schlang ihr Spiegelei hinunter und sagte mit heiserer Morgenstimme: »Es ist bestimmt nur eine simple Erkältung, und das müssen sie gleich im ganzen Land …«
    Weiter kam sie nicht, denn ihre Mutter riss plötzlich so heftig am Kamm, dass Tamaras Kopf nach hinten ruckte und ihre Zähne aufeinanderschlugen.
    »Sei still«, zischte Raissa Iljinitschna gepresst.
    In der Tür stand die Großmutter in ihrer Kittelschürze, die so alt war wie die große chinesische Mauer. Sie hörte sich die Rundfunkmeldung mit leuchtenden Augen an und sagte:
    »Rajetschka, kauf im Jelissejewski etwas Süßes. Heute ist nämlich Purim. Ich denke doch, Samech ist krepiert.«
    Tamara wusste damals nicht, was Purim ist, warum man dafür etwas Süßes kaufte, und schon gar nicht, wer dieser Samech war, der krepiert sein sollte. Woher sollte sie auch wissen, dass Stalin und Lenin aus Gründen der Konspiration in ihrer Familie seit langem nur nach dem Anfangsbuchstaben ihrer Parteinamen benannt wurden, »S« und »L«, und auch das in einer geheimen alten Sprache – Samech und Lamed.
    Indessen verkündete die Lieblingsstimme des Landes, dass es sich bei der Krankheit keineswegs um einen Schnupfen handelte.
    Galja hatte schon ihr Schulkleid angezogen und suchte nach der Schürze. Wo hatte sie die nur gelassen? Sie kroch unter die Liege – vielleicht war sie dorthin gerutscht?
    Plötzlich kam ihre Mutter aus der Küche gestürmt, ein Messer in der einen und eine Kartoffel in der anderen Hand. Sie heulte so durchdringend, dass Galja glaubte, die Mutter habe sich geschnitten. Aber es war kein Blut zu sehen.
    Der Vater hob den morgens immer schweren Kopf vom Kissen.
    »Was schreist du so, Nina? Was schreist du so früh am Morgen?«
    Aber die Mutter heulte noch lauter, und ihre Worte waren in dem abgehackten Geschrei kaum zu verstehen.
    »Er ist tot! Wach auf, du Dummkopf! Steh auf! Stalin ist tot!«
    »Haben sie das im Radio gesagt?« Der Vater hob den großen Kopf mit den an der Stirn klebenden Haaren.
    »Sie haben gesagt, er ist krank. Aber er ist tot, ich schwör’s dir, er ist tot! Das fühle ich!«
    Dann folgte erneut unartikuliertes Geheul, unterbrochen von dramatischen Ausrufen:
    »Ojeojeoje! Was soll nun werden? Was soll jetzt aus uns allen werden? Was wird nun bloß?«
    Der Vater verzog das Gesicht und sagte grob:
    »Was heulst du so, dumme Gans? Was heulst du? Schlimmer kann’s nicht werden!«
    Galja hatte endlich die Schürze hervorgezogen – sie war tatsächlich unter die Liege gerutscht.
    Egal, dass sie zerknautscht ist, ich bügle sie jetzt nicht, entschied sie.
    Gegen Morgen war das Fieber gesunken, und Olga schlief gut – ohne zu schwitzen und zu husten. Sie schlief fast bis zum Mittag. Und erwachte erst, als die Mutter ins Zimmer kam und mit lauter, feierlicher Stimme verkündete:
    »Steh auf, Olga! Ein großes Unglück!«
    Ohne die Augen zu öffnen, vergrub sich Olga im rettenden Kissen, in der Hoffnung, sie träume noch, obwohl sie bereits ein schreckliches Pochen im Hals spürte, und dachte: Krieg! Die Faschisten haben uns überfallen! Es ist Krieg!
    »Olga, steh auf!«
    Was für ein Unglück! Die faschistischen Horden zertrampeln ihr heiliges Land, alle werden an die Front gehen, aber sie darf nicht mit …
    »Stalin ist tot!«
    Das Herz pochte ihr noch in der Kehle, doch sie ließ die Augen geschlossen. Gott sei Dank, kein Krieg. Wenn der Krieg eines Tages käme, wäre sie bestimmt schon erwachsen, und dann würde man sie nehmen. Sie zog sich die Decke über den Kopf, murmelte im Halbschlaf »dann nehmen sie mich« und schlief mit diesem guten Gedanken ein.
    Die Mutter ließ sie in Ruhe.

Schuljahre sind doch
die schönste Zeit
    Es ist interessant zu verfolgen, welche Wege zur unvermeidlichen Begegnung von Menschen führen, die
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