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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Autoren: Katherine Boo
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    Prolog
    Inmitten von Rosen
    Mumbai, 17 . Juli 2008
    E s war kurz vor Mitternacht, die einbeinige Frau hatte schwere Verbrennungen, und die Mumbaier Polizei war auf dem Weg, um Abdul und seinen Vater abzuholen. In ihrer Slumhütte beim internationalen Flughafen trafen Abduls Eltern, ungewohnt sparsam mit Worten, eine Entscheidung. Der Vater, ein kranker Mann, sollte in der müllüberladenen Hütte mit dem Blechdach ausharren, in der die elfköpfige Familie wohnte. Er sollte sich widerstandslos abführen lassen. Abdul dagegen, der Verdiener der Familie, sollte abhauen.
    Abdul selbst war wie üblich nicht nach seiner Meinung zu diesem Plan gefragt worden. Er hatte ohnehin längst Hirnstarre vor lauter Panik. Er war sechzehn, vielleicht auch neunzehn – seine Eltern waren hoffnungslos desinteressiert an derlei Daten. Allah in seiner unergründlichen Weisheit hatte Abdul klein und schreckhaft angelegt. Als Feigling, wie er selbst sich nannte. Er hatte keine Ahnung, wie man der Polizei entwischt. Ahnung hatte er vor allem von einem: Müll. Er hatte fast sämtliche wachen Stunden in fast sämtlichen Jahren, an die er sich erinnern konnte, damit verbracht, von reicheren Leuten weggeworfene Sachen aufzukaufen und an Recyclingfirmen weiterzuverkaufen.
    Abdul begriff sehr wohl, dass er unbedingt verschwinden musste, aber er hatte keine Vorstellung davon, wie das ging. Er rannte los, war aber bald wieder da. Ihm fiel nur ein Versteck ein, und das war zwischen seinem Müll.
    Er riss die Tür auf und sah hinaus. Die Hütte seiner Familie stand in einer Reihe mit anderen mehr schlecht als recht zusammengenagelten Behausungen, und gleich nebenan war der windschiefe Verschlag, in dem er seinen Müll lagerte. Wenn er es unbemerkt da hinein schaffen könnte, wären die Nachbarn um das Vergnügen gebracht, ihn an die Polizei zu verpfeifen.
    Der Mond gefiel ihm dagegen gar nicht: ein blödsinnig heller Vollmond, der die ganze staubige offene Fläche vor seinem Zuhause erleuchtete. Jenseits davon standen zwei Dutzend Hütten anderer Familien, und Abdul fürchtete, dass er nicht der Einzige war, der im Schutz einer Brettertür nach draußen spähte. Es gab Leute in diesem Slum, die seiner Familie alles Schlechte wünschten, einzig und allein aufgrund der alten Ressentiments zwischen Hindus und Muslimen. Andere hatten einen moderneren Grund für ihre Missgunst: Sozialneid. Abdul war im Müllgeschäft tätig, für das viele Inder nur Verachtung empfanden, und er hatte seine große Familie damit weit über das schiere Existenzminimum hinaus vorangebracht.
    Immerhin lag der Platz ruhig da – verdächtig ruhig. Er zog sich wie eine Art Strand bis zu einem riesigen Klärteich, der den Slum nach Osten begrenzte, und abends ging es dort eigentlich hoch her: Leute prügelten sich, kochten, flirteten, badeten, versorgten ihre Ziegen, spielten Kricket, standen Schlange an der öffentlichen Wasserpumpe oder vor einem kleinen Bordell oder schliefen nach dem mörderischen Fusel aus der Bude zwei Türen neben Abdul ihren Rausch aus. Was immer sich in den überfüllten Hütten und auf den engen Slumwegen an Druck aufstaute, konnte sich nur hier auf dem Platz, dem Maidan, Luft verschaffen. Aber seit dem Streit und seitdem die Frau gebrannt hatte, die bei vielen nur Einbein hieß, hatten alle Leute sich in ihre Hütten zurückgezogen.
    Jetzt schien zwischen den streunenden Schweinen, dem Wasserbüffel und den üblichen Betrunkenen, die bäuchlings und breitbeinig herumlagen, nur ein Wesen wachsam zu sein: ein kleiner Junge aus Nepal, der keine Angst vor Gespenstern hatte. Er saß am Klärteich, die Arme um die Knie geschlungen, eingehüllt in glitzernden blauen Dunst – einer Spiegelung des Neonschilds von einem der Luxushotels auf der anderen Seite des Wassers. Dass der junge Nepali beobachten könnte, wo er sich versteckte, fand Abdul nicht schlimm. Adarsh war kein Spitzel. Er blieb nur einfach gern lange draußen, um seiner Mutter und ihren nächtlichen Wutanfällen aus dem Weg zu gehen.
    Eine bessere Gelegenheit würde er nicht bekommen. Abdul flitzte zu seinem Müllverschlag und zog die Tür hinter sich zu.
    Es war pechschwarz, und es wimmelte von Ratten, trotzdem war Abdul erleichtert. Das hier war
sein
Lager – zehn Quadratmeter, bis an das löcherige Dach vollgestapelt mit den Dingen dieser Welt, mit denen Abdul etwas anzufangen wusste. Leere Wasser- und Whiskey-Flaschen, schimmelige Zeitungen, benutzte Tampon-Einführhilfen,
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