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Zwei Schritte hinter mir

Zwei Schritte hinter mir

Titel: Zwei Schritte hinter mir
Autoren: Norah McClintock
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    Mein Magen verkrampfte sich, als der Bus die Bezirksgrenze überquerte. In knapp zehn Minuten würde er auf dem Parkplatz von Ralphs anhalten und ich müsste aussteigen. Ich wünschte mir, wir würden nie ankommen. Bei Allison war es genau umgekehrt.
    »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen«, erklärte sie. »Ich muss meiner Mom unbedingt zeigen, was ich gekauft habe.«
    Allison war meine beste Freundin. Wir hatten uns in der vierten Klasse kennengelernt, nachdem mein Dad als Manager in einem Kernkraftwerk eingestellt worden war. Wir waren aus der Stadt, in der ich geboren worden war, in eine Kleinstadt gezogen, die etwa zwanzig Meilen vom Kraftwerk entfernt lag. Allison hatte ihr ganzes Leben in diesem Städtchen verbracht. Ihr Vater war Apotheker; ihm gehörte der Drugstore in der Hauptstraße. Ihre Mutter war Friseuse mit einem eigenen Salon. Mit Allison hatte ich mich auf Anhieb gut verstanden. Sie ließ mich vergessen, wie sehr ich
meine alten Freunde vermisste. Heute waren wir gemeinsam mit dem Bus in die nächste Großstadt gefahren und waren den ganzen Tag shoppen gewesen.
    »Steph?« Allison berührte mich am Arm. »Steph, was ist los? Ich dachte, wir hätten einen schönen Tag gehabt, aber seit einer halben Stunde hast du kein Wort mehr gesagt.«
    Widerstrebend löste ich meinen Blick vom Busfenster.
    »Geht es um Gregg?«, erkundigte sich Allison.
    Ich nickte. »Er ist so ein Blödmann.«
    »Vielleicht trennen sie sich ja wieder.«
    »Schön wär’s.«
    Oh ja, wie schön das wär! Ich wusste nicht mal, was meine Mutter in ihm sah. Er war überhaupt nicht so wie Dad. Mein Dad hatte mehrere Universitätsabschlüsse und war in der ganzen Welt herumgereist, bevor er meine Mutter getroffen und geheiratet hatte. Er las ständig. Er war klüger als die meisten Menschen, die ich je getroffen habe, aber damit gab er niemals an. Außerdem interessierte er sich für wichtige Dinge – nicht nur dafür, wie man Geld verdient. Er half gerne anderen Leuten und engagierte sich ehrenamtlich in der Gemeinde. Er gehörte mehreren Hilfsorganisationen an und saß in ein paar örtlichen Wohlfahrtsverbänden. Jeder mochte ihn. Alle sagten, er sei ein netter Kerl.

    Gregg hingegen hatte es kaum durch die High School geschafft. Er arbeitete in einer Autoteilefabrik, die schon vor Monaten Kurzarbeit angemeldet hatte. Seinen geringeren Lohn versuchte er aufzubessern, indem er für einen Kumpel in einem Automatengeschäft arbeitete. Alle zwei Wochen fuhr Gregg ein paar Tage in der Gegend herum, füllte die Maschinen auf und sammelte das Geld ein. Seine Lieblingsbeschäftigungen waren Pokerspielen oder mit seinen Loserfreunden aus der High School Schneemobil zu fahren. Er träumte davon, sich selbstständig zu machen und sein eigenes Geschäft aufzumachen (wobei nie so ganz klar war, was für eine Art Geschäft das sein sollte und ob er überhaupt qualifiziert war, eines zu führen), um viel Geld zu verdienen, das er für ein neues Boot und ein neues Auto pro Jahr ausgeben konnte und – darum machte er am meisten Aufhebens – für einen Outdoor-Whirlpool, in dem er mit meiner Mom unter dem Sternenhimmel sitzen, Champagner trinken und sich amüsieren konnte. Igitt!
    Anders als mein Dad war Gregg noch nie irgendwo gewesen. Schlimmer noch, er war sogar stolz darauf, dass er sein ganzes Leben in derselben miefigen Kleinstadt verbracht hatte. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn hatte sagen hören, dass er nie auch nur auf hundert Meilen in die Nähe einer Großstadt ziehen würde. Er behauptete, in Großstädten gäbe es nur Beton und
Smog und Leute, die übereinander wohnten wie Ameisen in einem Ameisenhaufen. Er meinte, man müsse sich ja nur einmal die Kriminalitätsrate ansehen, um zu sehen, dass die meisten Menschen, die ermordet wurden, Stadtmenschen waren. Was für ein Idiot. Zum einen war ihm wohl nicht klar, dass etwa achtzig Prozent aller Einwohner des Landes in Städten wohnten, also war es wohl nur natürlich, dass die meisten Ermordeten Stadtbewohner waren. Außerdem war es ja nicht so, als gäbe es auf dem Land kein Verbrechen. In den vergangenen zwei Monaten waren hier in den Kleinstädten alle in Aufruhr gewesen, wegen der beiden verschwundenen Mädchen. Eben waren sie noch da gewesen und plötzlich waren sie weg.
    Als das erste Mädchen verschwand, hatte die Polizei angenommen, sie sei entweder weggelaufen oder hätte sich verirrt. Darauf kamen sie, weil es ein Mädchen aus der Stadt war, das erst vor einem
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