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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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vorgestellt worden. Die Ergebnisse, die ihr einige Tage später mitgeteilt wurden, waren wenig ermutigend. Toto hatte eine Form der Leukämie, die auch den zugezogenen Spezialisten gewöhnlich nur aus dem Raum von Kernkrafthavarien bekannt war. Die Ärztin blieb ratlos; unverständlich, dass Toto sich nicht vor Jahren in Behandlung begeben hatte, denn der Verlauf dieser Krankheit war sehr langsam, die Heilungsaussichten schlecht und unterdessen nicht mehr vorhanden.
    Toto verstand den Inhalt der Aussage nicht wirklich, es schien, als würde sie sich langsam verabschieden wollen von einer Party, zu der sie nie eingeladen gewesen war, und als wüsste sie nur nicht, bei welchem der zahlreichen Gastgeber sie mit ihrer Danksagung beginnen sollte. Die Ärztin hatte ihr Medikamente auf starker Morphiumbasis gegeben, was einen eigenartigen Zustand völliger Zufriedenheit erzeugen sollte. Da Toto diesen allerdings fast immer körpereigen herstellte, war keine große Veränderung festzustellen. Noch ruhiger war sie und hatte wieder zu singen begonnen, denn jene Instanz in ihr, die sie davon abgehalten hatte, die sie für zu unbegabt hielt, war weggefallen. Fast alle Bewohner des Heims kamen nun zu dem Vergnügen, jeden Tag zwei Stunden Gesang zu hören, der nichts wollte. Es klang wie ein Gespräch mit dem Jenseits, ein Klagelied voller Hoffnung. Aber das sagte natürlich keiner. Das sagt man doch nicht: He, das klingt wie ein hoffnungsvolles Klagelied, sie waren nur wie gelähmt, wenn sie Totos Stimme hörten, von einer Traurigkeit und Liebe getragen, die keiner von ihnen kannte.
    Toto fühlte sich vollkommen, noch stärker denn je zuvor, vergessen die Zeit unter der Brücke, mit der Trauer um die verpasste Liebe. Toto erinnerte sich nicht mehr mit Bedauern daran, dass sie es nie erlebt hatte, ohne Anstrengung mit jemandem zu sein, und auch die Übelkeit war verschwunden, kam nur noch schwach in der Nacht, sie übergab sich in einen Eimer, der neben dem Bett stand.
    Toto war glücklich.
    Sie konnte nicht wissen, wie es gewesen wäre, hätte sie von einem geliebt werden können, aber es war müßig, darum zu trauern. Sie konnte auch nicht wissen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Zeit gelebt zu haben, als ein anderer Mensch, oder ein Tier. Man kann alle Möglichkeiten betrauern, die man nie gehabt hat, oder sich daran freuen, dass man kurz aufgetaucht ist aus der Großen Dunkelheit der Unendlichkeit, die sonst immer herrscht, vor der Geburt und nach dem Tod, ein kurzer Moment Licht, das ist doch viel, und Milliarden, Trilliarden Eizellen war nicht einmal das vergönnt.
    Meist saß Toto auf dem Bett, wiegte sich hin und her und lächelte. So ein Geschenk, dieses Leben, und wie interessant, dass gerade während ihres Aufenthaltes auf Erden so viel passiert war.
    Wie angenehm und gepolstert heute alles schien, da war doch wirklich eine große Hoffnung für die Menschen, so eine Hoffnung, dass sie es angenehm hatten und sich nicht mehr so furchtbar hassen mussten. Das war doch schrecklich gewesen, all dieser Hass, weil immer einer mehr hatte, anders lebte, anders aussah. Das ist so wunderbar, dass sich jetzt alle gleichen und dieselben Sachen mögen. Einkaufen und Sport treiben, nein, das ist nicht ironisch, Toto ist noch nie ironisch gewesen, warum sollte sie im letzten Augenblick damit anfangen. Irgendwann hatte sich das Glück zu so einer großen Kugel geformt, dass sie aufstehen musste und ans Fenster gehen und singen, singen musste sie dann, weil es zu viel war, zu viel Glück, und sie sich freute auf das, was bald kommen würde, auf die Ruhe und die neue Erfahrung der Dunkelheit, die vielleicht angenehm war, nach all dem Gelebe und nach all der Veränderung, nach all den neuen Häusern und neuen Verkehrsmitteln, nach der Frage, wie man sein Leben gestalten soll und ob, da ist es vielleicht großartig, nichts mehr zu müssen, sich nicht mehr zu verhalten, nicht Mann oder Frau oder Nichts sein zu müssen. Da bleibt nicht mehr viel von allen diesen Fragen, wenn man so müde ist und so glücklich. Toto hörte auf zu singen, zwei Stunden war sie, sich wiegend, am Fenster geblieben, hatte Texte erfunden und Melodien, und ihre Stimme war gereift. Die Heimärztin kam jeden Tag, stand neben dem Fenster, draußen, ungesehen, und hörte zu, sie weinte, jeden Tag weinte sie, um dieses vergeudete Leben, dieses verschenkte Talent, so eine Stimme, die so unendlich voll war von einer uneingestandenen Trauer, so etwas hatte sie noch nie
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