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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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dem Anblick ihres nackten Hinterns zu erschrecken.
    Béatrice hatte nicht mehr so viele Freuden, aber die angewiderten Touristengesichter gehörten eindeutig dazu. Da will man ein wenig malerisches Elend fotografieren, und dann das. Das kann man doch zu Hause keinem zeigen, so einen nackten Pennerinnenhintern.
    Béatrice hatte sich an ihre Situation gewöhnt. Ihr war wohler hier, mit Blick auf die Seine-Insel, als in den Vororten. Die Nässe, die Hitze, die Hygiene hätte sie beanstanden können, aber wozu. Und vor allem, bei wem. Sie verstand sich gut mit ihren Mitbewohnern. Einer war ein Transvestit, ein Transgender, irgendetwas, sie hatten noch nicht darüber gesprochen, und mit den anderen schlief sie ab und zu für kleine Gefälligkeiten. Für eine Extradecke, ein feines Essen, eine frische Baguette. Den Männern gab es das Gefühl, nicht völlig entmannt zu sein, und ihr waren diese lieblosen kleinen Geschlechtsverkehre nicht zuwider, es erinnerte sie vielmehr an ihre Jugend. Es war normal gewesen, dass man sich ein wenig prostituierte, Männer und Frauen, die man damals nicht auseinanderhalten konnte, sie lebten in Wohngemeinschaften und tauschten untereinander die schwarze Lederkleidung, standen Modell für Maler oder geisteskranke Wichser, sie tanzten in Peepshows, in Gogo-Bars, sie animierten und gingen auch mal aufs Zimmer. Es war nichts dabei. Es hatte keinen im Kern beschädigt, der Kern, der damals aus Musik bestanden hatte, aus dem Gefühl, die Welt gehöre einem, man sei einmalig mit seinen gefärbten Haaren und dem Hunger und der Wut. Schon damals, mit achtzehn, hatte Béatrice im Marais wohnen wollen. Irgendwann, später, wenn sie es geschafft hatte.
    Sie hatte es geschafft. Sie war, als ihre Freunde aus der Jugend dick geworden waren oder gestorben, Krankenschwester geworden, und sie hatte die Wohnung bekommen, die sie seit Jahren im Auge hatte. Im fünften Stock an der Place Bourg-Tibourg. Ein rundes Treppenhaus, mit schiefem Holzboden, ein wenig Belle Époque, der Geruch alter Menschen, und oben wohnte sie allein auf der Etage, ein kleines Zimmer mit bodentiefem, halbrundem Fenster und Bad, das über die Dächer sah. Ihr Nest, der Ort, von dem sie träumte, ängstlich auf ihn bedacht. Morgens kam sie von ihrer Schicht im Krankenhaus, die Stadt roch nach Backwaren und Straßenreinigung, die Händler öffneten ihre Läden, der Bäcker, damals wurden die Baguettes noch nicht in Fabriken außerhalb hergestellt, gab ihr eine Tüte mit Croissants, mit denen sie dann am Fenster saß und Kaffee trank. Tagsüber schlief sie, das Fenster immer geöffnet, von unten beschützt durch die Geräusche der Marktleute, vom Geschrei der Schulkinder, behütet von den Autos, den Gesprächen, den Streitereien, unten auf ihrem Platz.
    Nach der dritten Mieterhöhung nahm Béatrice einen zweiten Job in einer Wäscherei an, bei der vierten Mieterhöhung gab sie auf. Das Haus war unterdessen von allen alten Mietern gereinigt, die Wohnungen zu Urlaubsappartements für Touristen oder Betriebswohnungen für indische IT-Spezialisten geworden. Béatrice musste gehen, und es war wie ein Unfall. Aus ihrer Wohnung ausziehen, aus ihrem Viertel, ihrem Zuhause.
    In die Vororte.
    Die neue Wohnung befand sich in einem Block, der aussah, wie ein unbegabtes Kind ein Haus malen würde, wenn es keine Lust hat, ein Haus zu malen. Ein Viereck. Béatrice saß in einem Viereck, in einer viereckigen Wohnung, die Küche war modern, es zog nicht, sie sah aus dem Fenster auf eine leere Straße, die Verkehrsanbindungen waren hervorragend, ein Monoprix an der Ecke, zum Einkauf von Lebensunnötigem ging der Mensch in die Stadt, wo ihre Wohnung jetzt an einen Inder vermietet worden war, den sie ab und zu beobachtete. Am Morgen, sie musste jetzt keine Nachtschichten mehr machen, ging Béatrice mit den Müttern, die ihre Kinder in den Kindergarten oder den Hort brachten, durch die Straße; links und rechts in den Erdgeschossen der viereckigen Häuser waren die Kinderaufbewahrungseinrichtungen mit hervorragendem Personal aus Sibirien und Bangladesh, die konnten gut mit Kindern, die Philippinen verstanden sich eher auf die Pflege der Alten, und hier draußen, in den Vororten, war die Stadt so homogen wie das vergangene Europa, die weiße Rasse, die Eingeborenen, die Pariser, die Lyoner, die Berliner, sie blieben korrekt unter sich, hier wohnte der Mittelstand, die neunzig Prozent, der Erfolg der Globalisierung, die Zeichen der Überlegenheit des
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