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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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worauf man neidisch sein konnte, ehrlich gesagt, das hat sich doch keiner vorstellen können.
    Keiner, draußen in der Welt der Funktionierenden, hätte das Heim Leprainsel genannt oder Aufbewahrungsstätte für überflüssiges Leben, Klapsmühle, Obdachlosenheim, Drecksammelstelle, so dachten die Menschen nicht mehr, erstaunlich, wie sich die Kontrolle des eigenen Hirns in diesen letzten Jahren, die man fast das Jahrzehnt der Selbstregulierung nennen konnte, verselbständigt hatte. Fast jeder zensierte seine Gedanken, untersuchte sie auf politische und humanitäre Korrektheit und fühlte sich miserabel, wenn er sich bei alten Klischees und Vorurteilen ertappte. Besonders sensible Menschen wurden verrückt an sich selber, sie betrachteten unentwegt den Strom ihrer Gedanken und begannen sich zu geißeln oder den Kopf gegen die Wand zu schlagen, weil sie immer wieder Unsauberkeiten bei sich entdeckten. Es war üblich, dass sich die Menschen in Gesprächen laut ihrer unklaren Gedanken entäußerten: Oh, verzeihen Sie, ich habe gerade gedacht, dass Sie mir nicht so sympathisch sind, bitte verzeihen Sie. Sagte man, oder: Oh, ich ertappte mich soeben bei einem Vorurteil bezüglich Ihrer Hautfarbe, peinlich, peinlich. Der Gesprächspartner nahm solche Offenheit dankend an, es galt als ein Zeichen der Höflichkeit, ein selbstregulierender Mensch zu sein. Allerdings führte das ständige Hinterfragen der Gedanken bei vielen Menschen zu Schlafstörungen, was nicht weiter auffiel, denn der weltweite Schlafmittelverbrauch hatte sich seit 2010 vervierzehnfacht. Schlafen ist verschwendete Zeit, so die akzeptierte Meinung, aber bis die Wissenschaft fortgeschrittener war, leider unabdingbar für den Erhalt der körperlichen Leistungskraft. Immerhin hatten Wissenschaftler herausgefunden, dass der Mensch ausschließlich vier Stunden am Stück und drei Powernaps benötigte, um auf den Höhepunkt seiner Kraft zu kommen und dort lange zu verbleiben. Die so gewonnenen Stunden öffneten ungeahnte Möglichkeiten. Da konnten Sprachen, also Chinesisch, gelernt, Fortbildungen gemacht und an der Fitness gearbeitet werden. So wie die Gesellschaft, ohne die Interessen der Industrie weiter zu hinterfragen, Nichtraucher geworden war, verzehrte sie nun gegen zehn Uhr selbstverständlich ein Schlafmittel, das sie genau vier Stunden ruhen machte, schluckte nach dem Erwachen eine Tablette, die sie augenblicklich wieder energisch und leistungsfähig werden ließ. Kaffee trank man durchaus nicht mehr, alle bevorzugten schmackhafte und gesunde Kräutertees, hergestellt aus blutreinigenden Pflanzen, die unberührt von negativen Umwelteinflüssen in den Bergen wuchsen. Danach begann man mit Sport und Weiterbildung.
    Über die Heime, die meist an Bahngleisen lagen, wurde nicht geredet. Man wusste, dass sie existierten und dass dort Kranke wohnten, denen geholfen wurde. Ein weitergehendes Interesse bestand nicht. Seit Jahren gab es eine Art Übereinkunft zwischen den Chefredakteuren der Magazine, Online-Zeitungen und des Rundfunk- und Fernsehrates. Man bearbeitete Nachrichten zum Wohle des Volkes. So viele Jahre war es nun geschmacklos gewesen, über Beunruhigendes zu berichten, dass es den Journalisten nicht mehr einfiel, irgendwann danach zu suchen.
    Toto war allein in einem Zimmer untergebracht, da ihr Geruch, der sehr sauer war, andere hätte stören können. Die pinkfarbenen Gitter vor den Fenstern wirkten nicht störend, eher wie ein alberner Bruch in der Struktur des Schotterwalls draußen, auf dem früher die Bahn verkehrt hatte. Das Heim war ein funktioneller Bau in erwähnt freundlichen Farben; sauber, gut geheizt in der Regenzeit, verfügte es über einen kleinen mit Schaumstoff ausgelegten Garten, durch den die Verwegeneren der Bewohner springen konnten.
    Die Bewohner, es waren ja keine Patienten oder Gefangene, bestanden aus Obdachlosen und geistig Verwirrten, meist waren diese beiden gleich unglücklichen Umstände eng miteinander verbunden. Es gab kaum mehr ein geistiges Gebrechen, das nicht behandelbar war. Nur die Renitenten, die Verweigerer, die Obdachlosen bildeten eine Art revolutionärer Zelle. Die aber, das konnte man in Regierungskreisen stolz behaupten, weitgehend zerschlagen worden war. Vielleicht gab es weltweit noch eine Million, die aufbegehrte, nicht arbeitete, die gewalttätig war oder rauchte.
    Doch nach und nach wurden auch sie entsprechenden Einrichtungen zugeführt.
    Toto war am ersten Tag ihres Aufenthalts einer Heimärztin
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