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Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Andrea Camilleri
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Harpune zur Seite, stützte sich auf die andere und griff mit seiner behandschuhten Hand nach einer Schulter des Mannes. Ein sanfter Griff. »Sie sind schon ein hartnäckiger alter Mann«, murmelte er.
    Der große Kopf bewegte sich so, daß Arflane das gefrorene Gesicht unter der eisverkrusteten Haarmähne sehen konnte. Die Augen öffneten sich langsam. Die blauen, geschwollenen Lippen bewegten sich; seine Kehle stieß einen gutturalen Laut hervor. Wieder betrachtete Arflane ihn einen Moment. Der Wahnsinn flackerte in den Augen des Mannes. Arflane nahm sein Gepäck ab, öffnete es und zog eine Flasche Alkohol heraus. Tolpatschig öffnete er deren Verschluß und flößte dem Mann etwas ein. Der Alte schluckte, hustete und keuchte. Als er sprach, klang seine Stimme verhältnismäßig ruhig. »Mir ist, als würde ich brennen. Aber das ist unmöglich. Bevor Sie gehen, Sir, sagen Sie mir noch, wie weit es bis Friesgalt ist …« Er schloß die Augen und ließ den Kopf hängen. Arflane musterte ihn unschlüssig. Er schloß aus den Resten der Kleidung des Alten, daß es sich bei ihm um einen friesgaltischen Aristokraten handelte. Wie war dieser Mann, zumal ohne einen Begleiter, hierher gekommen? Wieder dachte Arflane daran, ihn einfach liegenzulassen. Was hatte es für einen Sinn, einen Mann zu retten, der so gut wie tot war? Für die aristokratische Oberschicht von Friesgalt hatte er ohnehin nur Haß und Verachtung übrig. Und die Eisschoner von Friesgalt beherrschten die froststarren Ebenen. Verglichen mit den führenden Männern der anderen Städte, war der friesgaltische Adel leichtlebig und gottlos. Er mokierte sich öffentlich über die Lehren der Mutter des Eises. Er heizte die Wohnungen bis zur Übertreibung, lebte oft verschwenderisch und gestattete den Frauen nicht, die einfachsten Handarbeiten zu machen. Und einige von ihnen hatten die gleichen Privilegien wie die Männer. Arflane seufzte, furchte wieder die Stirn und taxierte den alten Aristokraten mit seinen Blicken sorgfältig ab. Ob er wollte oder nicht, er mußte die Zähigkeit und die Willensstärke des Mannes bewundern. War er der Überlebende eines zerstörten Schiffes, dann mußte er viele Meilen weit gekrochen sein. Ein Wrack war wohl auch die einzige Erklärung für seine Anwesenheit. Arflane faßte einen Entschluß. Er nahm einen pelzgefütterten Schlafsack aus seinem Gepäck und rollte ihn aus. Dann schob er die Beine des alten Mannes hinein und dann auf eine recht umständliche Weise den ganzen Körper. Den Kopf des Mannes hüllte er in die Kapuze des Schlafsacks und ließ nur eine winzige Öffnung, durch die er atmen konnte. Noch schwieriger war es, den Schlafsack samt Inhalt auf den Rücken zu hieven und zu befestigen. Er bewerkstelligte das mit zwei Lederriemen, die er seiner Gürteltasche entnahm. Selbst für einen Mann von seiner Stärke gestaltete sich der Transport schwierig. Doch unverdrossen stieß er seine als Skistöcke dienenden Harpunen ins Eis und nahm den weiten Weg nach Friesgalt in Angriff.
    Er hatte den Wind im Rücken. Die Sonne schimmerte matt hinter den grauen Wolken, deren Schatten über das Eis huschten. Das Eis schien sich wie eine Flutwelle zu bewegen; es funkelte stellenweise wie klares Wasser, war rot in der Sonne und schwarz im Schatten. In zwei Stunden würde die Sonne verschwunden sein. Arflane bewegte sich in westlicher Richtung auf Friesgalt zu und dem roten Ball der sinkenden Sonne entgegen. Der kalte Wind wirbelte Schneeflocken und winzige Eiskristalle über die endlose Fläche. Seine kräftigen Arme schwangen die Harpunen, und er lief – wegen der Last auf seinem Rücken – mit leicht gespreizten Beinen.
    Als gelegentlich der Mond und die Sterne durch die Wolken zu schimmern begannen, hielt er an. Der Wind hatte nachgelassen und hörte sich an wie ein fernes Seufzen. Doch selbst dieses Seufzen verstummte, als Arflane den Schlafsack mit der reglosen Gestalt des Alten vom Rücken nahm und das vor seiner Brust baumelnde Gepäck in den Schnee warf. Dann schlug er spitze Pfähle in das Eis und baute sein Zelt auf. Er zog den Schlafsack mit dem alten Mann hinein und packte den Kocher aus. Das war ein kostbarer Besitz, aber er mißtraute ihm fast genauso sehr wie den züngelnden Flammen des Feuers. Dieser Hitzespender wurde seinerseits von einer kleinen Sonnenbatterie gespeist, und Arflane war nicht der einzige, der keine Ahnung hatte, wie sie arbeitete. Auch die Erklärungen in den alten Büchern sagten ihm nichts. Die
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