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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin
Autoren: Brigitte Melzer
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    Mein liebster Sohn,
     
    es ist unumgänglich, dass Du die Wahrheit über den Tod Deines Vaters erfährst. Was die Menschen im Glen darüber zu berichten wissen, entspricht nur zum Teil dem, was sich damals wirklich zugetragen hat.
    In einem haben sie zweifelsohne recht: Mein Gemahl war nicht mehr derselbe, als er aus den Ruinen unseres Heims zu uns zurückkehrte. Sein Haar war weiß geworden. Nicht langsam, Strähne für Strähne, unter dem Hauch des Alters, sondern plötzlich, von einem Atemzug zum nächsten.
    Er wäre nicht der Mann gewesen, den ich liebte, hätten die Ereignisse ihn kaltgelassen. Der Tod seiner Schwester Sarah. Die Vernichtung unseres Zuhauses. Du kennst die Legenden, die sich um jene Geschehnisse ranken. Das alles konnte unmöglich spurlos an ihm vorübergehen. Doch sein Haar war bei Weitem nicht das Einzige, was sich verändert hatte. Jene schrecklichen Stunden und Tage hinterließen tiefe Narben auf seiner Seele. Etwas in ihm schien zerbrochen. Die Menschen des Glens, die zeit seines Lebens zu ihm – ihrem Earl – aufgesehen hatten, glaubten, er sei dem Wahnsinn anheimgefallen.
    Doch dem ist nicht so. Er war Zeuge schrecklicher Dinge geworden, aber er war nicht wahnsinnig. Ebenso wenig hat er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Sie hat ihn sich geholt – ganz wie sie es im Tode geschworen hatte. Ich sah sie in jener Nacht unter unserem Fenster stehen. Eine bleiche Gestalt, die Deinen Vater mit süßer Stimme lockte. Er folgte ihrem Ruf. Ich wollte ihn aufhalten, doch er war wie von Sinnen.
    »Es muss ein Ende haben!«, rief er und stieß mich zur Seite. Das Flehen in seinem Blick, als er sich noch einmal zu mir umwandte, ließ mich innehalten. Er wünschte sich tatsächlich, dass es endlich vorüber wäre. Wie konnte ich ihm diesen Wunsch verwehren nach all den Qualen, die er durchlitten hatte?
    Die Dankbarkeit, die ich in seinen Zügen erblickte, als ich ihn ziehen ließ, war das letzte Geschenk, das ich je von ihm erhielt. Kurz und vergänglich und doch einprägsamer als alle Worte.
    Als man seinen Leichnam am Fuße der Klippen fand, glaubten die Leute, sein Wahnsinn habe ihn freiwillig aus dem Leben scheiden lassen. In all den Jahren habe ich nie jemandem gesagt, dass ich sie in jener Nacht gesehen habe. Die Menschen wähnten sie tot, gestorben in denselben Flammen, die auch Dun Domhainn, unser Zuhause, verzehrt hatten. Doch wie konnten sie auch nur einen Augenblick glauben, das Feuer des Scheiterhaufens sei außer Kontrolle geraten und habe die Burg ebenso zerstört wie ihren verderbten Leib? Welches Feuer brennt heiß genug, um Stein zu verzehren? Nein, Dein Vater sprach die Wahrheit, daran zweifle ich nicht. Sie war noch im Augenblick ihres Todes zurückgekehrt, um Rache zu nehmen. Erfüllt von der Macht ihres finsteren Meisters verwandelte sie die Burg in ein Inferno aus Blut und Flammen. Sie schwor jeden zu holen, der an ihrem Niedergang beteiligt gewesen war – und bei Gott, das tat sie!
    Liebster Sohn, ich weiß, dass ich es nie vermocht habe, Dir die Ernsthaftigkeit der Rituale nahezubringen, die wir Jahr für Jahr am Tag der Ushana, dem Todestag Deiner Tante Sarah, vollziehen. Womöglich hätte ich Dir all das schon viel früher sagen sollen, doch mir fehlte stets der Mut. Darüber zu sprechen bedeutet, all die Erinnerungen erneut heraufzubeschwören. Selbst heute – Jahrzehnte nach dem Tod Deines Vaters – fällt mir das noch immer schwer. Manche Wunden heilen nie.
    Hat es Dir nie zu denken gegeben, dass die Menschen im Glen zwar darauf beharren, die Feuersbrunst, die all die Leben gefordert und die Burg zerstört hat, sei ein Unglück gewesen, zugleich aber jedes Jahr am Tag der Ushana Gott um seinen Schutz anflehen? Sie mögen verleugnen, was geschehen ist, dennoch fürchten sie insgeheim, dass Dein Vater die Wahrheit gesprochen hat. Und sie tun gut daran!
    Ich habe bis heute nicht begriffen, was Deine Tante Sarah dazu trieb, sich mit den Mächten der Finsternis einzulassen. Die Ushana – so nannte Dein Vater sie nach seiner Rückkehr. Eine bluttrinkende Kreatur, die den Tod überwunden hat. Für mich war sie immer nur meine Schwägerin Sarah. Ein so zartes, zerbrechliches Geschöpf voller Schönheit. Unvorstellbar, zu welchem Gräuel sie fähig war! Ihre Geschichte mag wie ein Schauermärchen anmuten, geschaffen, um Kinder zu erschrecken. Doch es steckt weit mehr dahinter. Jedes einzelne Detail entspricht der Wahrheit. Vergiss das niemals!
    Ich
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