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Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Andrea Camilleri
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Vater, der auch Konrad Arflane hieß, wie all seine männlichen Vorfahren seit Hunderten von Jahren. Alle waren Kapitäne gewesen; erst vor einigen Generationen hatten Angehörige der Arflane-Familie eigene Schlitten besessen. Diese Eisschlitten – meistens Handelsboote und Jagdfahrzeuge – waren mit Segeln ausgerüstete Schlitten auf gigantischen Kufen, die mit großer Geschwindigkeit über die Eisfläche fegen konnten. Jahrhunderte alt, dienten die Riesenschlitten als Verkehrsmittel und verbanden die acht Städte des Plateaus miteinander. Diese Siedlungen befanden sich in Spalten unterhalb der Eisoberfläche. Alle verfügten über Segelschlitten, und ihre Macht war von der Größe und der Qualität ihrer Flotte abhängig. Brershill, Arflanes Heimatstadt, war einst die mächtigste Siedlung gewesen; aber ihre Flotte löste sich rapide auf, und jetzt gab es schon mehr Kapitäne als Schiffe. Denn Friesgalt, schon immer Brershills größte Rivalin, war nun die das Plateau beherrschende Stadt geworden und hatte eine regelrechte Hegemonie entfaltet. Friesgalt kontrollierte den Handel, hatte das Monopol über die Jagdgebiete und kaufte die Segelschlitten der Leute anderer Städte, die nicht mehr wettbewerbsfähig waren.

    Konrad Arflane war sechs Tage unterwegs, als er auf der weißen Ebene ein dunkles Etwas auf sich zukommen sah. Er blieb stehen und versuchte, dieses Etwas zu identifizieren. Die Größe konnte er nicht beurteilen; es konnte alles sein, angefangen von einem verwundeten Landwal, der sich auf seinen gewaltigen, muskulösen Flossen vorwärtsschleppte, oder ein verwilderter Hund, der sich unvorsichtigerweise allzuweit von den warmen Teichen entfernt hatte, an denen er Robben anzufallen pflegte. Eine Schneewolke verdeckte die Sonne. Arflane hob seinen Augenschutz an, beobachtete das sich bewegende Objekt und fragte sich, ob er darauf zugehen oder es einfach übersehen solle. Er war nicht auf die Jagd gegangen, doch wenn es ein Wal war, konnte er ihn erlegen, sein Zeichen hinterlassen, verhältnismäßig reich werden und der Zukunft optimistischer entgegensehen.
    Er grub seine Harpunen in den Schnee und stieß sich ab. Die Harpunen benutzte er sowohl als Speere als auch als Skistöcke. Seine Muskeln bewegten sich unter der Pelzjoppe, und das Gepäck auf seinem Rücken schlenkerte hin und her. Er lief mit
    raschen, doch sparsamen Bewegungen.
    Für einen Moment blickte die Sonne hinter den grauen Wolken hervor, und Eiskristalle funkelten wie Diamanten von Horizont zu Horizont. Arflane sah, daß es ein über das Eis kriechender Mann war. Dann verschwand die Sonne wieder. Arflane war enttäuscht. Ein Wal, selbst eine Robbe war etwas Nützliches, doch mit einem Menschen konnte er nichts anfangen. Auch als er über das schweigende Eis auf ihn zuglitt, wußte er noch immer nicht, ob es nicht besser war, wieder kehrtzumachen. Die Moralbegriffe der Eisländer verpflichteten ihn keineswegs zu einer Hilfeleistung, und er hätte keinerlei Gewissensbisse bekommen, würde er diesen Mann dem Tod überlassen haben. Es war schwer, Arflanes Neugier zu erregen, aber war das erst einmal geschehen, mußte er sie zwangsläufig befriedigen. Menschen waren in dieser Region sehr selten. Dann hatte er den Mann erreicht, der einen bemitleidenswerten Eindruck machte. Das Gesicht, die nackten Füße und Hände waren blau vor Kälte und mit Frostbeulen bedeckt. Kopf und Arme waren mit vereistem Blut bedeckt. Er hatte unzulängliche Pelzstreifen um seinen Körper gewickelt und sie mit Lederriemen befestigt. Der Kopf war bloß, die grauen Haare waren bereift. Mit einer tierisch anmutenden Zähigkeit kroch der Mann weiter. Die roten, halbblinden Augen starrten geradeaus. Seine blauen Lippen schienen starr zu lächeln, als er auf dem Bauch und den Ellenbogen über die gefrorene Fläche rutschte. Ein Bein schleifte er nach; es war entweder gebrochen oder gefühllos. Ein alter Mann, stellte Arflane fest, aber sein Körper sieht noch kräftig aus, trotz des Zustands, in dem er sich augenblicklich befindet. Der Mann bemerkte ihn nicht. Konrad Arflane betrachtete ihn düster und runzelte seine Stirn. Er wollte kehrtmachen. Immerhin empfand er ein Gefühl der Bewunderung für diesen sterbenden alten Mann. Er stieß seine Harpune in das Eis, um in die Richtung zu gleiten, aus der er gekommen war. Da sackte der alte Mann zusammen und lag völlig still. Jetzt würde der Tod nicht mehr lange warten. Arflane trat neben ihn und bückte sich. Er legte eine
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