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Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Andrea Camilleri
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Rorsefne-Flagge flatterte über den Oberbramsegeln. Alle vier Flaggen waren groß und hatten die Farben schwarz, weiß, gold und rot. Flaggensymbol waren die weißen Hände der Mutter des Eises, flankiert von einem Bären und einem Wal, den Symbolen der Tapferkeit und der Lebenskraft. Die Hände waren gewölbt und hielten einen Eissegler. Eine grandiose Flagge, dachte Arflane. Er verlagerte das Gewicht auf seinem Rücken und glitt näher heran.
    Der Schoner, der die Segel gesetzt hatte, zog die Anker ein und lief aus. Arflane blieb stehen und winkte. Es war der Schoner Snow Girl aus Brershill. Einer der Leute erkannte ihn und winkte zurück, doch die meisten waren mit den Segeln beschäftigt. Als der Schoner an ihm vorbeiglitt, hörte Arflane die Stimme des Kapitäns, der Kommandos in ein Megaphon brüllte. Der Wind blähte die Segel, die Fahrgeschwindigkeit nahm zu.
    Ein wehmütiges Gefühl beschlich Arflane, als er sich umdrehte und das Schiff in östlicher Richtung über das Eis gleiten sah. Es war ein hübscher Segler, den er gern kommandiert hätte.
    Er stieß seine Harpunen wieder ins Eis, bewegte sich an den Schiffen vorbei und auf die Eisblockmauer zu, von der die Stadtschlucht Friesgalt umgeben war.

    Das Haupttor war kaum groß genug, um einen Schlitten hindurchzulassen. Ein Posten mit einem schußbereiten Bogen aus Elfenbein stand davor, ein blonder Jüngling, der seine Pelzkapuze zurückgeschoben hatte. Er machte einen energischen Eindruck, und Arflane schloß daraus, daß er erst unlängst zum
    Posten des Haupteingangs ernannt worden war.
    »Sie sind kein Bewohner von Friesgalt und gewiß kein Händler von einem der Schiffe«, sagte der Jüngling. »Was wollen Sie?«
    »Ich habe Ihren Lord Rorsefne auf dem Rücken«, entgegnete Arflane. »Wohin soll ich ihn bringen?«
    »Lord Rorsefne!« Der Posten ließ seinen Bogen sinken, trat
vor und hob das Kopfteil des Schlafsacks an, so daß er das
Gesicht des Mannes auf Arflanes Rücken sehen konnte. »Keine
anderen?« fragte er.
»Ich habe keine anderen gesehen.«
»Ist er tot?«
»Beinahe.«
    »Sie fuhren vor einigen Monaten hinaus. Eine Geheimexpedition. Wo haben Sie ihn gefunden?«
    »Einen Tagesmarsch östlich von hier.« Arflane lockerte die Gurte und bettete den alten Mann auf das Eis. »Kümmern Sie sich um ihn.«
    Der junge Mann zögerte und sagte dann: »Nein – warten Sie, bis meine Ablösung kommt. Es dauert nicht mehr lange. Sie müssen alles erzählen, was Sie wissen. Vielleicht wird eine Rettungsexpedition hinausgeschickt.«
    »Ich kann nicht mitmachen«, sagte Arflane mürrisch.
    »Bitte, bleiben Sie noch. Sie müssen genau berichten, wo Sie ihn gefunden haben. Das ist auch einfacher für mich.« Arflane zuckte die Achseln. »Da gibt es nicht viel zu berichten.« Er bückte sich, packte den Schlafsack mit Lord Rorsefne und zog ihn ins Tor. »Aber wenn Sie wollen, warte ich, bis ich meinen Schlafsack wieder mitnehmen kann.«
    Hinter dem Tor befand sich eine zweite Eisblockwand, die Brusthöhe hatte. Arflane blickte hinüber und sah einen steilen Pfad, der zur ersten Etage der Stadt führte. Darunter waren, so weit man sehen konnte, weitere Etagen. Auf der anderen Seite der Schlucht sah Arflane die Türen und Fenster der vornehme ren Wohnungen. Die Türen waren mit Schnitzereien und die Fassaden mit Reliefs verziert. Sie sahen kunstvoll aus. Die Schluchtenbewohner der Frühzeit hatten ihre Höhlen so tief wie möglich angelegt, um die Wärme zu speichern. Die gleichen Menschen hatten die Eissegler gebaut, die in einer Zeit, in der die Treibstoffversorgung nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, das praktischste Transportmittel waren.
    Arflane sah die Ablösung des jungen Postens. Der Mann kam die zur zweiten Etage führende Rampe herauf. Er trug weiße Bärenfellkleidung, einen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen. Seine Schuhsohlen waren mit Nägeln gespickt; so rutschte er nicht ab, wenn er in die tieferen Etagen hinunterstieg. Ein einfaches Lederseil war die einzige Sicherheitsvorrichtung. Wer ausrutschte, der mußte rasch zugreifen, wenn er nicht von der verhältnismäßig schmalen Rampe in den Abgrund stürzen wollte.
    Der Posten erstattete seiner Ablösung Bericht. Dies war ein alter Mann mit ausdruckslosem Gesicht, der kurz mit dem Kopf nickte und vor dem Tor Aufstellung nahm.
    Arflane schnallte seine Schneeschuhe ab, während der junge Posten ihm ein Paar Nagelschuhe reichte. Als Arflane die Nagelschuhe angezogen hatte, griffen er und der
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