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Alles Wurst

Alles Wurst

Titel: Alles Wurst
Autoren: Christoph Guesken
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    Es hatte als großes und buntes Fest des Glaubens begonnen. Fromme Menschen, angelockt durch den untadeligen Ruf der Stadt, waren scharenweise aus ganz Europa herbeigeströmt, in ihrem Herzen zutiefst davon überzeugt, dass das Jüngste Gericht kurz bevorstehe. Gott der Herr, auch das stand für sie fest, würde nur diejenigen verschonen, die sich als Zeichen des Neubeginns sicherheitshalber ein zweites Mal taufen ließen und dem Satan widersagten. Da drängelten sie sich nun auf den Straßen und Plätzen und hörten tagein, tagaus Predigten zur Buße und Abkehr von der Sünde des Fleisches, als könnten sie nicht genug davon bekommen. Jan Mattys, Knipperdolling und die anderen Vordenker der Bewegung sahen mit Sorge, dass die Zahl der Unbekehrten beachtlich war, und empfahlen jenen Einwohnern, die nicht ihres Glaubens waren, ihn anzunehmen, weil sie nur dann mit dem Leben davonkommen würden.
    In diese Zeit der Andacht, der inbrünstigen Lieder und Gebete platzte die Nachricht vom Eintreffen des Fürstbischofs, der in der Tauffrage eine andere Meinung vertrat und deshalb mit seinen Truppen jenseits der Stadtmauern Stellung bezogen hatte. Erste Wolken zogen am blauen Himmel des Glaubensfestes auf. Doch davon unbeeindruckt erklärte man Münster zur heiligen Stadt und Jan van Leiden zu ihrem König.

    Wie alle Täufer war sich auch der Holländer bewusst, dass es für den frommen Menschen nichts Wichtigeres gab, als Buße zu tun, doch was sollte man büßen, wenn man zum zweiten Mal frisch getauft und somit unschuldig wie ein neugeborenes Kind war? Wer pinkeln wollte, musste bekanntlich erst trinken. So rief der König seine Untertanen auf, möglichst schwere Fleischessünden mit möglichst vielen Frauen zu begehen und sich nicht um die Bischöflichen, die des Satans seien, zu kümmern.

    Strategisch gesehen eine fatale Entscheidung, denn des Bischofs Laune besserte sich kaum dadurch, dass er Ausschweifungen, die ihm schon von Amts wegen versagt blieben, untätig mit ansehen musste. Als der Tag mit der Chance kam, auf die er gewartet hatte, war seine Rache schrecklich. Das legendäre Täuferreich zu Münster versank in Blut und Asche, aber davon abgesehen versicherten später jene wenigen, die das episkopale Gemetzel überlebt hatten, es sei alles in allem eine schöne Zeit gewesen, die sie um nichts in der Welt hätten verpassen wollen.

     
    Rund fünfhundert Jahre waren seit diesen Ereignissen vergangen. Immer noch hatte die Stadt einen makellosen Ruf und vielen schien sie zum Glauben besser geeignet als je zuvor. Trotzdem war vieles anders geworden: Die Truppen des Erzbischofs drängten nicht mehr gegen die Stadtmauern − dafür gab es hin und wieder zähflüssigen Verkehr auf der A1, der sich bis nach Greven zurückstaute. Aber wie damals im Jahre des Herrn 1534 erwies sich auch im Frühjahr 2010, dass die Sünde des Fleisches nach wie vor in der Lage war, Gemüter zu erhitzen.

    Was mich anging, so bekam ich davon zunächst wenig mit. Am Abend jenes Samstags, an dem der Zank um den Neubau der Allwetterfleisch GmbH begann, wartete ich im Restaurant Stuhlmacher auf meinen ehemaligen Expartner, um mit ihm den historischen Neubeginn unserer Zusammenarbeit zu feiern. Es war Anfang Mai, und draußen gab der Frühling alles, was er zu bieten hatte. Ich nahm an, Kittel hatte diese düstere Gaststätte vorgeschlagen, um mir wieder einmal klarzumachen, wie wenig er sich aus schönem Wetter machte. Meine Hoffnung, dass der lange Italienaufenthalt positiven Einfluss auf ihn gehabt hatte, war trügerisch gewesen.

    Das Lokal war fast leer, bis auf eine Gruppe übergewichtiger älterer Herren, die lautstark die letzte Preußen-Niederlage debattierten, und einen jungen Spund, der in einer Nische bei einem Schnaps vor sich hin dämmerte.

    Ich vertrieb mir die Wartezeit mit einigen Bieren, während die Preußenfans markige Sprüche klopften wie ›nach dem Spiel ist vor dem Spiel‹. Nach dem Abstieg ist vor dem Abstieg, dachte ich hämisch und prostete ihnen zu.

    Kittel kreuzte nicht auf, er rief nicht einmal an. Irgendwann hatte ich genug von der Warterei, bestellte ein letztes Bier und bemerkte bei dieser Gelegenheit, dass es schon kurz vor Mitternacht war. Die Herrenrunde hatte sich längst verabschiedet.

    Der junge Spund hob sein Glas in meine Richtung. »Kummer, Chef?«, fragte er.

    »Wie kommen Sie darauf?«

    »Mir fällt kein anderer Grund ein, um an einem schönen Samstagabend in einer Spelunke wie dieser zu
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