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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt
Autoren: Don DeLillo
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Prolog

    E r spricht wie du, mit amerikanischer Stimme, und in seinen Augen liegt ein halbwegs hoffnungsfroher Schimmer.
    Heute ist Schule, klar, aber er ist meilenweit vom Klassenzimmer entfernt. Er ist lieber hier, wer wollte es ihm verdenken, im Schatten dieses alten Rostkolosses – eine Metropolis aus Stahl und Beton und abblätternder Farbe und kurzgeschnittenem Gras und, schräg über den Anzeigetafeln, riesigen Chesterfield-Packungen mit zwei, drei vorstehenden Zigaretten.
    Sehnsucht im großen Maßstab, so wird Geschichte geschrieben. Dieser Junge hier hat überschaubare Wunsche, aber er gehört zu der sich sammelnden Menge, den anonymen Tausendschaften in Bussen und Zügen, Menschen in dichtgedrängten Schlangen, die auf der Drehbrücke den Fluß überqueren, und auch wenn dies keine Völkerwanderung oder Revolution ist, keine tiefe Erschütterung der Seele, sie bringen die Körperhitze einer großen Stadt mit, ihre kleinen Träumereien und Enttäuschungen, das unsichtbare Etwas, das den Alltag heimsucht – Männer in Filzhüten und Matrosen auf Landgang, das streunende Durcheinander ihrer Gedanken, alle auf dem Weg zu einem Spiel.
    Der Himmel ist tief und grau, vom trüben Grau anrollender Brandung.
    Er steht bei den anderen am Bordstein. Mit vierzehn ist er der jüngste, und an dem gereizten, schiefen Aussehen, das er sich übergestreift hat, kannst du erkennen, daß er total abgebrannt ist. Für ihn ist es das erste Mal, und er kennt keinen der anderen, nur zwei oder drei scheinen sich untereinander zu kennen, aber allein oder paarweise können sie diese Sache nicht schaffen, also haben sie sich durch verstohlene Blicke gefunden, die den Draufgängerkollegen enttarnen, und da stehen sie nun, schwarze Jungs und weiße Jungs, aus den Unterführungen aufgetaucht oder von den nahegelegenen Straßen Harlems, schlanke Schatten, Gangster, fünfzehn insgesamt, und die Stadionlegende besagt, wenn einer erwischt wird, kommen wahrscheinlich vier durch.
    Nervös warten sie darauf, daß die Besitzer von Eintrittskarten die Drehkreuze freimachen, das letzte lockere Fangrüppchen, die Bummler und Herumlungerer. Sie beobachten die späten Taxis aus der Innenstadt und die pomadisierten Männer, die flink an die Schalter treten, Wettbankiers und Dinnerclubgecken und aufgetakelte Broadwaygrößen, die sich die Schuppen von den Mohairärmeln pflücken. Die Jungs stehen am Bordstein und schauen, ohne zu starren, mit der säuerlichen Miene von Straßenschluris zu. Das ganze Tohuwabohu hat sich gelegt, das Vorspielgebabbel und – gewirbel, Verkäufer, die die proppenvollen Bürgersteige abkämmen, Spielprotokolle und Fähnchen schwingen und in den althergebrachten Singsang verfallen, abgerissene Männer, die Anstecker und Mützen aufdrängen, sie alle haben sich inzwischen zerstreut, zurück auf ihre Zimmerchen in den abgetretenen Straßen.
    Sie stehen am Bordstein und warten. Ihre Augen werden grimmig, strahlen weniger hell. Einer nimmt die Hände aus den Hosentaschen. Sie warten, und dann preschen sie los, einer von ihnen, ein Ire, prescht los, er ruft Geronimo.
    Vier Drehkreuze stehen gleich hinter den beiden Kassen. Der jüngste der Jungen ist auch der magerste, Cotter Martin heißt er, ein Schlaks in Polohemd und Latzhose, und er versucht, sich nicht als Pechvogel zu fühlen – er gehört zur Nachhut des Ansturms und läuft und schreit mit den anderen. Man schreit, weil es kühn macht, oder weil man seine Unerschrockenheit kundtun will. Sie haben ihre Gesichter zu Schreimasken verzogen, mit zusammengekniffenen Augen und dehnbaren Mündern, und sie laufen schnell, versuchen sich durch die Gassen zwischen den Schaltern zu drängen, sie rempeln mit Hüften und Ellbogen und schreien immer weiter. Die Gesichter der Kartenverkäufer hängen hinter den Schaltern wie Zwiebeln an der Schnur.
    Cotter sieht die ersten Springer über die Stangen gehen. Zwei von ihnen prallen in der Luft zusammen und landen verrenkt, der Länge nach, am Boden. Ein Kartenabreißer nimmt den einen in den Schwitzkasten, und seine Mütze kommt ins Rutschen, gleitet ihm am Rücken herab, und er greift mit blindem Schwung danach, zur gleichen Zeit – alles passiert zur gleichen Zeit – schaut er nach den anderen Hürdenspringern, um nicht getreten zu werden. Sie rennen und überspringen die Hürden. Eine hirnlose Form des Fliegens, und die Körper, dicht an dicht, schaffen den buchstäblichen Durchbruch. Sie springen zu früh oder zu spät und
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