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244 - Der dunkle Traum

244 - Der dunkle Traum

Titel: 244 - Der dunkle Traum
Autoren: Volker Ferkau
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Er hatte viele Formen, viele menschliche Gestalten angenommen, denn die Langeweile in der Gefangenschaft war quälend. Er hatte in diesen Gestalten etwas gesucht, er wusste selbst nicht was, aber nichts gefunden, bis er…
    »Sieh mich an!«, zeterte eine Stimme hinter ihm.
    Grao’sil’aana ignorierte sie. Seitdem er diese Gestalt des weißhäutigen Mannes damals, im Palast des Kaisers der Wolkenstadt, das erste Mal angenommen hatte, faszinierte sie ihn. Sollte sein Schützling zetern, so viel er wollte. Solange er, der vielleicht letzte Daa’mure auf diesem Planeten, Spaß daran hatte, sein Aussehen zu wandeln, würde er es tun.
    Grao metamorphierte wieder in seine normale Gestalt und drehte sich langsam um. Sein silberner Echsenpanzer aus Myriaden winzigster Hautschuppen glänzte im kalten Schimmer, der durch die Glasbarriere des Kerkers fiel. »Du gehst mir auf die Nerven, Daa’tan…«, flüsterte Grao. Er war sich seiner eigenen Emotionen bewusst und das erschütterte ihn.
    Seine Physiognomie sorgte dafür, dass er sich immer wieder regenerierte, auch bei schlimmen Verletzungen. Dieser emotionale Schmerz jedoch ließ sich nicht durch ein Neuanordnen seiner Körpersubstanz mildern.
    Diese Seuche muss ein Erbe meines Wirtskörpers sein, dachte Grao, genetisch in seinem Hirn verankert und nicht auszumerzen.
    Die Daa’muren hatten keine Gefühle gekannt und immer nur logisch nach den Faktoren Aufwand und Nutzen entschieden. Erst mit dem Wechsel in die gezüchteten Echsenkörper hatte das Dilemma begonnen, das zu schwerwiegenden Fehlern in ihrem Eroberungsfeldzug gegen die Primärrassenvertreter führte.
    Aber das lag lange zurück, war fast schon vergessen. Ein anderes Ereignis lastete schwerer auf Graos neu entdeckter Seele: Vor fast einem Jahr, als ihr gemeinsamer Angriff auf die Wolkenstadt niedergeschlagen worden war, hatte er Daa’tans Gunst verloren. [1] Dabei war der Daa’mure damals, als der Wandler weiter gezogen war, nur wegen Daa’tan auf der Erde geblieben. Der Junge war sein Schützling seit Kindesbeinen, und er, Grao’sil’aana, sein vom Sol bestimmter Mentor. Er würde den Knaben niemals im Stich lassen und hatte umgekehrt dasselbe gehofft. Nur wegen ihm hatte er nicht, wie all seine Artgenossen, seinen Körper aufgegeben und sich dem Wandler auf dessen Weg ins All angeschlossen.
    Lerne zu warten, hatte er Daa’tan beigebracht. Entscheide mit kühlem Kopf. Diese Ratschläge hatte der Junge mit Füßen getreten. Dann war Mefjuu’drex (»Matthew Drax« in der Sprache der Daa’muren) gekommen und hatte, gemeinsam mit seiner Barbarin und dem weißhaarigen Albino, den sicher geglaubten Sieg in eine Niederlage verwandelt.
    Daa’tan hasste seinen leiblichen Vater, den Primärfeind der Daa’muren, aber er liebte auf unverständliche Weise seine Mutter – als gäbe es ein unsichtbares Band zwischen ihnen. In trunkener Sentimentalität hatte er Partei für sie ergriffen und sich gegen Grao gestellt, obwohl er Daa’tan aufgezogen und erst zu dem gemacht hatte, was er war: Ein Kind im Körper eines Erwachsenen, der, dank den Genen eines daa’murischen Pflanzenexperiments, über die Flora des Planeten gebot.
    Grao hatte zwar versucht, sich Daa’tans Gunst erneut zu versichern, aber das war nicht gelungen. Ein Grund dafür war sicherlich, dass Grao in Ägypten versucht hatte, Aruula lebendig zu begraben. Daa’tan, der die Aufwand-Nutzen-Rechnung der Daa’muren nie verinnerlicht hatte, schien ihm sein durch Logik diktiertes Handeln übel zu nehmen. In der entscheidenden Phase des Kampfes um die Wolkenstadt hatte dieses emotionale Verhalten sie beide geschwächt, sodass Mefjuu’drex sie mit Schlangengift betäuben konnte.
    Seit dem Erwachen in diesem Hochsicherheitskerker betrachtete der Daa’mure die Situation pragmatisch. Sie hatten einen Angriff gegen Wimereux-à-l’Hauteur geführt und waren unterlegen. Jeder Krieg barg dieses Risiko. Von Rechts wegen hätte man sie hinrichten müssen. Dass sie noch lebten, kam einem Wunder gleich. Und barg zugleich die Chance, dem Kerker auch wieder zu entfliehen. Irgendwann.
    Grao hoffte inständig, dass sich die Gelegenheit eher früher als später ergab. Für Jahre oder Jahrzehnte mit diesem Jungen eingesperrt zu sein, würde seinen Verstand zerrütten.
    Nun, mehr als ein paar Jahre werden es ohnehin nicht sein, dachte Grao, und obwohl er den Gedanken kalt und emotionslos begonnen hatte, überkam ihn ein Frösteln, noch bevor er ihn beendet hatte: Nach
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