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244 - Der dunkle Traum

244 - Der dunkle Traum

Titel: 244 - Der dunkle Traum
Autoren: Volker Ferkau
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weißer Mann, sind Worte. Ich las Schriften in Büchern, deren Seiten fein wie Staub waren, die von Männern verfasst wurden, die schon mehr als sechshundert Sommer tot sind. Sie alle befassten sich mit der Sprache und damit, dass man ohne sie nicht auskommt, wenn man sich mitteilen möchte. Gesten, Bewegungen, Gefühle sind gut und schön. Aber Sprache, lieber Rulfan, ist das Mittel aller Mittel. Nur mit ihr können wir Kriege erklären und Liebesschwüre sprechen. Nur mit ihr kann man Missverständnisse auflösen und philosophische Erkenntnisse diskutieren. Aber verzeih, dass ich dich unterbrach…«
    »Nein, schon gut…« Rulfan fühlte sich, als ruhe er in einem weichen Daunenkissen. Die gewählten Worte des Alten taten ihm gut. Sie erinnerten ihn daran, wie lange er schon kein kluges Gespräch mehr geführt hatte. Wie lange man ihm keine sinnvolle Frage mehr gestellt hatte.
    »Rulfan jetzt schlafen?«
    Rulfans Kopf zuckte herum. »Bitte Lay – bitte! Du siehst doch, dass wir uns unterhalten. Du kannst ja schon mal gehen und das Lager richten.«
    Lay zog ihre Brauen zusammen. Ihr Kinn ruckte hoch. »Rulfan hier – Lay hier!«
    Aldous schenkte nun auch Rulfan nach. Er selbst nippte nur an seinem Becher.
    Die Valvona streckte sich im Schlaf und rülpste. Ihre Beine klappten auseinander, wischten Holz und Staub weg, zogen sich wieder zusammen. Ihre Federn zitterten, dann lag sie wieder still. Chira schlief auf der Seite. Ihre Beine zuckten. Sie jagt, dachte Rulfan und empfand eine tiefe Zuneigung zu der Lupa.
    Aldous blickte über den Rand seines Bechers. »Beginne mit deiner Familie, Rulfan. Sie ist es, die uns ausmacht, und dort fangen die meisten Geschichten an.«
    »Ja…«, murmelte Rulfan. »So ist es wohl.«
    Aldous wartete geduldig.
    »Ich habe meine Mutter verloren«, begann Rulfan und fragte sich einen Herzschlag lang, warum er ausgerechnet dieses Thema anschnitt. Er sah Aldous unschlüssig an, dann fiel das Erstaunen von ihm ab und es sprudelte heraus: »Sie hieß Canduly. Niemals würde sie mich verlassen, sagte sie. Und doch tat sie es. Sie blieb alleine mit meiner Schwester Maraya bei Fischern. Mich gab sie weg.«
    »Sie gab dich weg…«, gab Aldous mitfühlend zurück.
    »Ja, das tat sie.« Rulfan stockte. Seine Lippen bebten. Warum sprach er darüber? Sollte er weitermachen? Wann hatte er das letzte Mal darüber gesprochen? »Sie gab mich zu den Technos. Genau genommen übergab sie mich meinem Vater, Sir Leonard Gabriel. Der lebte unter der Erde, in der Community London, Mutter bei Ihresgleichen unter freiem Himmel. Sie waren nicht füreinander geschaffen. Die Welt, in der sie lebten, ließ es nicht zu. Ein Techno durfte niemals eine Barbarin zur Frau haben. Vater und ich brachten Mutter und Maraya mit einem EWAT zur Küste.«
    »Mit einem EWAT…«, motivierte Aldous den Redefluss.
    »Ja. Dort bestiegen sie einen Einmaster. Ich war neun, als meine Mutter und meine Halbschwester mich verließen, als sie auf das Meer hinausfuhren. Ich blieb zurück in einer Welt der Konsolen, Sichtschirme, künstlichen Intelligenzen. In einer Bunkerstadt. Meine Mutter nannten sie eine Barbarin. Obwohl ich zornig auf sie war, wäre ich gerne bei ihr gewesen, bei ihr und meiner Schwester. So fühlen Neunjährige wohl…
    Um mich auf mein neues Leben vorzubereiten, erzählte mir mein Vater Geschichten aus alten Zeiten. Vom Kometen ›Christopher-Floyd‹, der auf die Erde gestürzt war und diese für immer entstellte. Er erklärte mir die Steine von Stonehenge, dort, wo ich als Kind am liebsten spielte. Er unterwies mich in der Geschichte der Menschheit. Sprach von den Römern, von Germanen, von Männern, die bauten, erfanden und philosophierten. Er lehrte mich unendlich viel.« Rulfan räusperte sich. »Ich habe kaum jemals darüber geredet… Es war mein Leben. Es war mein Kummer… Warum, bei den Göttern, spreche ich jetzt darüber?«
    »Lay müde!«, fuhr Lay dazwischen, die Rulfans Monolog mit offenem Mund und einigermaßen verständnislos zugehört hatte. »Rulfan auch müde!«
    »Noch ein paar Minuten…«, meinte Rulfan und leerte seinen Becher. Der Geschmack hatte sich geändert. Er war jetzt bitter geworden. Seltsam! Er spuckte ins Feuer. Es zischte und Dampf stieg auf.
    »Lay geht!« Sie sprang auf. Ihr Körper bebte vor Zorn. »Lay geht schlafen!« Sie stolzierte davon.
    Rulfan blickte ihr nach und schüttelte den Kopf. »Verdammt – was hat sie nur? Sie ist die beste Frau, die man sich denken kann.
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