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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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erklärt, was in Wahrheit dahintersteckte: die tiefe Verunsicherung des auf dem Festland festgehaltenen, von den Seinen abgeschnittenen Inselbewohners!
    Wenn es überhaupt jemanden gibt, der zusammengehört, dann ist es die Bevölkerung einer kleinen Insel von nicht einmal zwei Quadratkilometern. Der Inselbewohner ist daran gewöhnt, dieselben Gesichter jeden Tag zu sehen, denselben Gruß zu tauschen, dieselben Fragen zu stellen. Der Inselbewohner ist verstört und findet sich nicht mehr zurecht, wenn er von einem Tag auf den anderen niemanden mehr erkennt. Er weiß nicht, wie man mit Menschen in der Stadt umgeht, die in einer Stunde mehr reden als er selbst in der ganzen Woche, er schafft es nicht einmal, die neue Umgebung kennenzulernen, weil er nicht gewohnt ist, weitere Strecken zu laufen. Und das gilt nicht nur für Leute wie mich, die vorher schon Probleme mit den Beinen hatten, es gilt für den Inselbewohner allgemein.
    Der nächste Schritt ist, dass der Inselbewohner anfällig wird für Sorgen und Gerüchte. Diese Entwicklung durfte man niemandem übel nehmen, im Gegenteil: Man musste mit ihr rechnen, man musste auf sie vorbereitet sein und ihr fest ins Auge sehen. Das Wichtigste im Kampf gegen Zweifel, erklärte Ooti, war zusammenzustehen und einander zu helfen, das Ziel nicht aus dem Herzen zu verlieren.
    Als hätte Ooti es mir nicht eindringlich genug eingebläut! Henry konnte das Gartentor noch nicht erreicht haben, als mich bereits Gewissensbisse befielen, weil ich ihn um ein Haar einen Idioten genannt hätt e – ausgerechnet ich, der er dauernd zur Seite stand.
    Ich lehnte mich aus dem Bett und fischte nach meinem Bein. Mem verbiss sich die Bemerkung, die ihr auf die Stirn geschrieben stan d – »Bist du heute nicht schon genug gelaufen? « –, und ließ mich gehen.

2

    Mein Bruder Henry war überzeugt, dass wir den Verräter ein weiteres Mal gesehen hatten. Sobald uns dieses Mal wieder einfiele, meinte er, hätten wir nicht mehr nur sein Gesicht vor Auge n – denn das sahen wir noch genau vor un s –, sondern wir würden uns erinnern, wer er war.
    »Und dann?«, fragte ich.
    Er antwortete nicht. Erst hinterher fiel mir auf, dass er sobald gesagt hatte und nicht wenn . Für Henry war es nur eine Frage der Zeit, wann uns der Mann wieder begegnen würde, er hatte sogar daran gedacht, eine Skizze des Gesichts anfertigen zu lassen. Ich fand das überaus schlau von ihm und behielt für mich, dass meine bis dahin recht scharfe Erinnerung an das Gesicht nun von der Bleistiftskizze überdeckt wurde. Ich sah Bartstoppeln an just denselben Stellen, wo Leni Broders sie auf die Zeichnung getupft hatte, und hielt die Augen offen nach einem Mann mit einem schiefen Gesicht, obwohl es in Wirklichkeit nur leicht oberhalb der Brauen gezuckt hatte. (Leni behauptete, dass man in der Kunst ein Augenzucken durch ein schiefes Gesicht darstellte.)
    Den ganzen Sommer und Herbst hielt ich Ausschau nach ihm, obwohl ich nicht eine Minute ernsthaft damit rechnete, ihn wiederzusehen. Die britische Zone war der letzte Ort der Welt, an dem er sich aufhalten würd e – wenn er überhaupt noch lebte, aber auch das bezweifelte Henry nicht. Ein Mensch mit einer solchen Schuld konnte nicht auf gewöhnliche Weise im Krieg dahingerafft worden sein. Ein Mensch mit einer solchen Schuld würde büßen und seinen Opfern in die Augen sehen müssen. Alles andere wäre nicht gerecht.
    »Vielleicht hat er es nicht mehr ausgehalten und sich erschossen«, schlug ich vor.
    »Zuzutrauen wäre es ihm. Dieser Feigling!«, murmelte Henry verächtlich, und mich durchschoss eine Idee, die so brillant war, dass mir einen Augenblick der Atem stockte.
    »Wie wäre es, wenn wir ihn dazu bringen?«
    Mein Bruder und ich blickten uns an und ich sah es in seinen Augen aufleuchten.
    An eine Pistole zu kommen, war nicht schwe r – die Militärregierung hatte zwar angeordnet, alle Waffen abzugeben, doch unter Schutt und Geröll tauchten immer wieder welche auf, wurden mitgenommen und neu versteckt. Man wusste schließlich nicht, was uns noch erwartete! Die Alliierten stritten und feilschten um uns, jede der vier Besatzungsmächte wollte etwas anderes und die anfängliche Erleichterung, der britischen Zone zugefallen zu sein und nicht den marodierenden Russen, rachsüchtigen Franzosen oder gleichgültigen Amis, war längst der Angst gewichen. Worauf würden sich die Alliierten einigen? Stimmte es, dass sie sämtliche noch vorhandene Industrie abbauen,
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