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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dasselbe über sich ergehen lassen müssen, macht das eigene Denken wohl einfach eine Pause. Man tut, was alle tun: Man zittert, man hofft, man heult, man klettert mitten in der Nacht über Trümmer hinweg auf ein Schiff und wundert sich über die Gluthitze, die am Strand herrscht, obwohl es April ist.
    Erst draußen auf dem Meer wurde mir bewusst, dass es die Hitze war, in der das Unterland verbrannte, und dass das zuckende, orange Glühen, das wir durch die Bullaugen des Dampfers noch über viele Seemeilen erkennen konnten, nie zuvor an dieser Stelle gesehen worden war. Das Feuer hinter uns war unsere Insel.
    »Alice, es reicht, sitz endlich still!«, rügte mich Mem, der der fatale Fehler, den wir gerade im Begriff waren zu begehen, offenbar gar nicht auffiel.
    Nein, ich hatte noch kein Mitleid mit den Hamburgern. Nach allem, was wir in den letzten Tagen erlebt hatten, bedeutete es mir nichts, eine Stadt zerstört zu sehen, die ich nur von Fotos gekannt hatte. Aber wo in aller Welt sollte man hier wohnen? Auf die zerstörte Fläche Hamburgs mussten Dutzende von Inseln passen! Mit Sicherheit würde es schneller gehen, unsere Helgoländer Häuser und Zisternen zu reparieren, als Hamburg wieder bewohnbar zu machen!
    Ich beugte mich vor und tippte Mem auf die Schulter. »Lass uns umdrehen und zurückfahren! Das wird nichts!«
    »Alice!«, tadelte Mem errötend.
    Ich lehnte mich wieder zurück, aber nicht lange. Ich war überzeugt, dass meine Mutter die Gefahr im Stillen jetzt auch erkannt hatte und nur zu höflich war, etwas zu sagen.
    »Was, wenn die anderen nächste Woche nach Hause dürfen und wir sitzen weit weg in einem qualmenden Erdloch und wissen von nichts?«, versuchte ich es noch einmal.
    »Alice, es ist gut! « Auf Mems Stirn ahnte ich jetzt die Zornesfalte.
    »Ein qualmendes Erdloch, klasse«, freute sich Herr Kindler.
    Ich forderte Henry auf: »Jetzt sag doch auch mal was!«
    Mit einer Stimme, als erwachte er aus einem bösen Traum, antwortete mein Bruder: »Ich finde, Alice hat Recht. Wir sollten bei den anderen bleiben.«
    Ich konnte Herrn Kindler anmerken, dass er bereits wieder aufhörte, mich klasse zu finden. »Hör mal, Kleine, das fällt euch ein bisschen spät ein«, ärgerte er sich. »Wisst ihr, was ich gerade für euch riskiere?«
    »Wir sind sehr dankbar, dass Sie uns mitnehmen, Herr Kindler!«, betonte Mem und sandte einen Blitz zu mir nach hinten. »Von Zurückfahren kann keine Rede sein!«
    Ich sah sie eine Hand ganz fest um den Türgriff legen, als wollte sie verhindern, dass unser Wohltäter uns wieder auf die Straße setzte.
    »Übrigens, eure Rückkeh r …«, sagte er plötzlich. »Glaubt lieber nicht daran.«
    Einige Augenblicke war es im Wagen mehr als still. Es war hohl, tot, lee r … wie der Zwischenraum zwischen dem Einschlag einer Bombe und den ersten Schreien, dem Moment, in dem die Zeit selbst für eine Sekunde angehalten worden zu sein scheint.
    »Was soll das heißen?«, fragte Mem schließlich verblüfft.
    »Es heißt, die Insel wird aufgegeben. Dahin kehrt niemand zurück.«
    »Nein, das kann auf keinen Fall stimmen!«, antwortete Mem sofort. »Es sind ja noch Leute dort. Auch Zivilisten! Sie bringen alles wieder in Ordnung und dan n …«
    Herr Kindler schüttelte vorsichtig den Kopf. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gehört habe«, meinte er wie entschuldigend. »Und ich habe gehört, sie bauen alles ab, was noch irgendwie verwertbar ist, und das war’s.«
    »Leo Kindler!«, durchschnitt Ootis Stimme die bleierne Stille, die sich über den Wagen gelegt hatte. »Solange ich mich erinnern kann, hast du noch nie richtig gehört!«
    Herr Kindler und Mem lachten au f – eine Salve, die auf uns niederprasselte.
    »Ich hoffe für Sie, Sie können bald nach Hause!«, rief Herr Kindler. »Aber von mir aus lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich sehe schon, Sie werden meine Mutter ordentlich aufheitern, Frau Sievers!«
    Ooti lachte nicht mit, sie gab sich nicht einmal Mühe, so zu tun. Meine Großmutter sah traurig und alt aus, älter als ich sie je gesehen hatte, und mir schoss der seltsame Gedanke durch den Kopf, dass vielleicht auch ich mich schon verändert hatte in den wenigen Tagen, seit wir von der Insel fortmussten.
    Das war meine erste Begegnung mit dem Gerücht gewesen. Seitdem war es noch öfter aufgetaucht, meist geflüstert und gefolgt von einem wesentlich lauteren: »Ach, das kann ja gar nicht sein!« Inzwischen achtete ich kaum noch darauf, hatte Ooti mir doch genau
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