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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Deutschland um Jahrhunderte zurückversetzen und einen Bauernstaat aus uns machen wollten? Dass die Hälfte der Bevölkerung bei dieser Umstellung verhungern würde, war, so hieß es, bereits Teil dieser Idee, die sie Morgenthau-Plan nannten.
    Andere glaubten, dass Engländer und Amerikaner am Ende zusammen mit uns Deutschen gegen die Russen gehen würden, was nichts anderes als einen neuen Krieg bedeutete. Im einen wie im anderen Fall würde man sich also verteidigen müssen und fast jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der noch eine Waffe versteckt haben wollte.
    Aber dann! Ich versuchte mir Henry und mich vor dem Mann stehend vorzustellen, ihn mit der Pistole in der Hand, und abgesehen davon, dass allein dieses Bild meine Vorstellungskraft zu sprengen drohte, war mir nicht klar, wie wir ihn davon würden abhalten können, uns zu erschießen anstatt sich selbst. Ins Gesicht würde er uns lachen! Wir würden eine zweite Pistole brauchen, mindestens, und schneller und kaltblütiger sein als er, aber weder Henry noch ich waren kaltblütig oder hatten je eine Pistole in der Hand gehabt.
    »Oder Gift«, überlegte mein Bruder.
    Gift war nicht schlecht. Gift gab es überall. Ich wusste ganz sicher von zwei Stellen in unserem eigenen Haus, an denen Gift aufbewahrt wurde. Wir würden sein Vertrauen erschleichen und ihm Gift ins Getränk mischen!
    »Das reicht nicht«, erwiderte Henry. »Er muss wissen, dass er sterben wird und warum. Darum geht es doch, Alice.«
    Langsam kam mir der Verdacht, dass Henry alles so kompliziert machte, dass der Mann unbehelligt hundert Jahre alt werden würde, selbst wenn er in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auftauchte.
    Die Verrätersuche war eine Sache zwischen Henry und mir. Wir hatten geschworen, ihn zu finden, und obwohl bis zum Herbst weder meine Hoffnung auf Erfolg gestiegen war noch das Problem gelöst, was wir im Falle eines Falles mit dem Mann anfingen, ließ ich mich immer wieder mitreißen. Kaum eine Woche verging, in der wir nicht hinter Unbekannten herschlichen, die sich durch einen Blick, eine Bewegung oder auch nur dadurch bei Henry verdächtig gemacht hatten, dass sie ihn nicht anblickten.
    Als die Tage kürzer wurden, war Henry klar geworden, dass wir unsere Taktik ändern mussten. »Es hat keinen Sinn, auf einen Zufall zu warten«, entschied er. »Wir müssen überlegter vorgehen. Ist er alt oder jung? Hat er Familie, lebt er allein? Wofür interessiert er sich? Kurz: An welchen Orten würde er sich aufhalten?«
    An dieser Stelle beschloss ich, endlich zu reden. Schon seit einiger Zeit hegte ich einen Verdacht, wo der Mann sein konnte, und je länger ich den Verdacht mit mir herumtrug, desto verblüffter war ich, dass Henry noch nicht selbst darauf gekommen war.
    Wenn ich zögerte, meinen Verdacht auszusprechen, dann hatte das einen ziemlich eigennützigen Grund: Mich nach dem Verräter umzusehen, bedeutete Ablenkung vom Thema Essen. Vom Thema Essen durfte man sich nicht beherrschen lassen, obwohl man natürlich damit aufstand, den ganzen Tag herumlief und zu Bett ging. Solange man noch einen anderen Gedanken hatte, war man gegenüber dem Thema Essen klar im Vorteil.
    Insgeheim war ich ganz froh, dass wir den Verräter hatten, ich wollte ihn ungern aufgeben. Aber an diesem Morgen war mir auf dem Weg zur Schule zum ersten Mal schwarz vor Augen geworden, sodass ich stehen bleiben und mich an einer Mauer festhalten musste.
    Als ich wieder sehen konnte, sah ich Henrys erschrockenes Gesicht vor mi r – genau wie damals, als die Flieger kamen und er als Erster bei mir gewesen war.
    »Soll ich dich ein Stück tragen?«
    Ich wehrte ab. Aber wenn wir an diesem Tag dem Verräter gegenübergestanden hätte n … ich hätte ihn laufen lassen müssen. An diesem Tag spürte ich zum ersten Mal, dass ich all meine Kraft brauchen würde, um den kommenden Winter zu überstehen.
    »Henry, ich glaube, er ist in einem Kriegsgefangenenlager«, sagte ich.
    Mein Bruder nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht.«
    »Vielleicht«, schlug ich zögernd vor, »sollten wir eine Pause einlegen?«
    »Bis zum Frühjahr.«
    »Oder bis Foor und die anderen entlassen werden. Dann ist er vielleicht dabei.«
    »Und sollten wir ihn zufällig vorher schon sehe n …«
    »Klar. Dann ist er dran!«
    Das war vor vier Monaten gewesen, und trotz der Schonfrist, die wir ihm gewährt hatten, dachte ich immer noch jeden Morgen an den Verräter, wenn ich mich zwang, aufzuwachen und unsere Lage in
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