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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Tommys den rechten Teil des Kiekebuschwegs, in dem wir wohnten, beschlagnahmt. Wir durften wegen der Ausgangssperre noch immer nicht hinaus, aber vom Fenster aus hörten und sahen wir, dass einige Deutsche sehr wohl im Freien standen. Kleine Gruppen von Leuten umringten kleine Berge von Gepäck, heulten und lagen sich in den Armen.
    Das war die zweite Überraschung: Den Familien aus den unversehrten Villen rechts von Frau Kindlers Gartentor, den Villen, die die Alliierten sich schon vor Jahren aus der Luft ausgesucht haben mussten, um nach ihrem Sieg selbst darin zu wohnen; den Familien also, auf deren Dächer keine Bomben gefallen waren, hatte man eine Viertelstunde Zeit zugestanden, um das Nötigste zu packen und zu verschwinden. Direkt neben ihnen rollten die Tommys Maschendrahtzaun aus.
    Und das war die dritte Überraschung: Sie taten, als wären wir gar nicht da.
    Am übernächsten Morgen, kaum dass die Ausgangssperre aufgehoben war, trauten Henry und ich uns hinaus, um die Lage zu erkunden. Über der ganzen Gegend hing ein süßlicher Geruch, den wir uns nicht recht hatten erklären können; jetzt erkannten wir, dass er von offenen, mit Kerosin befüllten Kochstellen kam, die die Tommys eingerichtet hatten. In ihren lockeren braunen Uniformen, die an Overalls erinnerten, merkwürdig gepuffte Baskenmützchen schräg auf dem Kopf, standen die Soldaten in den Vorgärten der beschlagnahmten Villen und ließen es sich schmecken. Einige waren so nah, dass man sie durch den neuen Zaun hätte berühren können.
    Henry fasste sich ein Herz. Er sprach recht gut Englisch, war aber ziemlich aufgeregt, sodass sein »Hello, how do you do?« ganz heiser herauskam. Wahrscheinlich hatten die Tommys ihn einfach nicht gehört.
    »Good morning, my name is Henry«, versuchte er es noch einmal lauter.
    Doch die Tommys drehten sich nicht um. Sie wandten uns stur Rücken oder Schultern zu und fuhren fort, ihr Essen zu löffeln und große Stücke Weißbrot von ganzen Laiben abzureißen, die sie unter den Arm geklemmt hatten. Keiner sagte etwas. Je länger wir da standen, desto mehr schämte man sich zuzusehen.
    Die sind ja wie Roboter, dachte ich bestürzt.
    Und je länger wir da standen, desto schlimmer wurde der Schmerz in meinem linken Bein.
    Dass der Feind auf mich und meine Schulkameraden geschossen hatte, hatte ich bislang für einen Irrtum gehalten. Niemand schoss absichtlich auf Kinder, die gerade aus der Schule kamen! Mem und Dr . Kropatscheck hatten mir das versichert, kaum dass ich aus der Narkose aufgewacht war: Der Feind hatte nicht richtig geguckt, so etwas hätte auch einem deutschen Tiefflieger passieren können und die Sache mit meinem Bein war einfach großes Pech, an dem der Krieg schuld war.
    Das leuchtete mir ein. Tiefflieger kamen so dicht über der Wasseroberfläche angeschossen, dass man sie, wenn überhaupt, erst entdeckte, wenn es zu spät war. Die Flugzeuge zogen am Felsen steil nach oben, tauchten ohne jede Vorwarnung am Klippenrand au f … und hatten das andere Ende unserer winzigen Insel damit praktisch auch schon erreicht. In den paar Sekunden, die ihnen zum Schießen blieben, konnten sie gar keine Zeit haben, richtig zu gucken. Zumindest hatte ich es mir seitdem so vorgestellt.
    Doch während ich den Tommys beim Essen zusah, begann mein linkes Bein zu klopfen und zu schmerzen und keiner der Tricks, mit denen ich es sonst zum Schweigen brachte, wollte mehr helfen. Mein linker großer Zeh schien sich nach hinten biegen zu wollen, und warum nicht? Ein Zeh, der nicht mehr da ist, kann schließlich tun, was er will.
    Durch die Zähne atmen! In die Arme kneifen! Aber nichts half. Mir war, als bestünde ich nur noch aus meinem linken Bein, und als es endlich meine ganze Aufmerksamkeit hatte, wurde es heiß und schwer. Als wollte es mir zu verstehen geben, dass das, was passiert war, ein ganz anderes Gewicht hatte, als man mich glauben machen wollte.
    Einer der Soldaten drehte sich plötzlich zu uns um und sagte etwas auf Englisch. Es hatte freundlich geklungen, aber sofort trat Henry einen Schritt zurück, fasste mich am Arm und zog mich mit sich fort.
    »Was hat er gesagt?«, flüsterte ich, als wir die sichere Gartenpforte erreicht hatten.
    »Er hat gesagt, er würde sehr gern mit uns sprechen, aber er darf nicht.«
    »Warum denn nicht? Wir haben doch jetzt Frieden!«
    Henry überlegte. »Vielleicht«, sagte er zögernd, »gilt der Frieden nur für die, die gewonnen haben.«
    Einige Wochen später schrieb
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