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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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nicht sehen konnte.
    Keine fünfzig Meter zur Linken des Kindler’schen Gartentors begann die kilometerweite Trümmerwüste unseres Stadtteils. Schuttberge, Bombenkrater, Mauerreste. Verkohlte Ruinen, eingestürzte Ruinen, bröckelnde Ruinen. Wohin man auch schaute, das Bild änderte sich nicht. Dem Begriff »weit und breit« hatten die alliierten Bomber eine Dimension verliehen, die ich bis vor einem Jahr nicht in der Lage gewesen wäre, mir auszumalen, es sei denn, man dachte an Himmel, Wolken und Wellen. Mit ein bisschen Fantasie und zusammengekniffenen Augen ließ sich in einiger Entfernung sogar ein riesiger Schiffsbug erkenne n – der fünfstöckige Hochbunker, ein Ungetüm mit vier Meter dicken Betonwänden, an den auch ich in den letzten Kriegswochen noch unauslöschliche Erinnerungen hatte knüpfen dürfen.
    Und weit und breit keine Spur von Henry. Mem hatte einen Wehrmachtsmantel von Foor für ihn eingefärbt, da Feldgrau nun verboten war; ein ziemlich verunglücktes Blaurot war dabei herausgekommen, das meinen Bruder aus jedem Menschenauflauf klar hervorstechen ließ. Nicht dass es einen Menschenauflauf gegeben hätte, doch am späten Nachmittag trieb die Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Essbares zu ergattern, viele Leute, die morgens leer ausgegangen waren, noch einmal auf den Weg. Manche hatten auch andere Ziele als die Läden in der Bahnhofstraße. Ein älterer Mann trug eine Aktentasche so fest unter den Arm geklemmt, dass er das Wort »Tauschwaren« genauso gut hätte draufschreiben können. Die besten Zeiten für den Schwarzmarkt waren morgens um zehn und nachmittags gegen vie r – ein Wissen, das uns nichts nützte, denn wir besaßen nichts zum Tauschen. Das einzige, was dafür infrage gekommen wär e – zwei mal fünfzehn Zigaretten, die es jeden Monat auf Mems und Ootis Raucherkarte ga b – zahlten wir als Miete an Frau Kindler. Dass Henry nicht unter denen war, die sich Richtung Bahnhofstraße bewegten, war auf Anhieb zu erkennen.
    Es half nichts. Ich musste mich überwinden, den Kopf drehen und nach rechts schauen. Und wenn es überhaupt noch einer Krönung dieses besonderen Tages bedurfte, dann war es die: meinen eigenen Bruder auf der falschen Seite der Straße zu entdecken.
    Frieden sieht nur auf den ersten Blick aus wie ein kurzes Wort. Ich glaube, es gibt keine zwei Menschen auf der Welt, für die Frieden ganz genau dasselbe bedeutet. Für mich hieß Frieden und wird es vielleicht immer heißen, dass sich der graugelbe Dunst verzog, der Himmel blau wurde, dass man wieder atmen konnte und sich erinnerte, was Stille war. In den ersten Nächten lag ich stundenlang wach und lauschte; ich brauchte ein paar Tage, bis ich es tatsächlich glauben konnte: Nie mehr würden wir von Alarm geweckt werden, schlaftrunken nach dem gepackten Koffer greifen, in einen stinkenden, überhitzten Tunnel oder Bunker taumeln.
    Dass Hamburg kampflos übergeben worden war, erfuhren wir durch Aushänge an den Plakatsäulen. Aufgeregt drängten wir uns zwischen anderen auf dem Bürgersteig, reckten den Hals, traten uns auf die Füße. Frieden! Das stand zwar nicht auf dem Plakat, aber alles, was da stand, übersetzte sich in dieses eine Wort.
    Tränen flossen. Viele um mich herum pressten die Hand vor den Mun d – durfte man schon jubeln? Vor zwei Tagen wäre man hierfür erschossen worden. Das untere Drittel der Schrift, die bis letzte Woche plakatiert worden war, konnte man unter der neuen Bekanntmachung noch deutlich erkennen: Ein Hundsfott, der den Führer verlässt!
    »Jetzt schreiben sie als Erstes eine Liste, was alles wieder aufgebaut werden muss«, erklärte Ooti, während wir die neuen Herrscher am Fenster vorbeirollen sahe n – rasselnde Panzer unter weißen Betttüchern, die schlaff an den Fassaden herabhingen. Das ganze Haus dröhnte und bebte, nur wir selbst waren zum Schweigen und Stillhalten verdammt. Ich hätte gern gewinkt, egal wem; ich war so erfüllt vom Frieden, dass ich schon fast bereit war zu verzeihen. Aber der Bevölkerung war unter Androhung von Strafen verboten worden, sich während des Einmarschs der Besatzungstruppen im Freien aufzuhalten.
    Das war die erste Überraschung: Auch im Frieden drohten sie uns also noch mit Strafen.
    »Mit den Fabriken, Schulen und Krankenhäusern fangen sie an, aber irgendwo auf dieser Liste steht auch der Name Helgoland«, versprach Ooti. »Wir müssen jetzt nur Geduld haben und warten, bis wir an die Reihe kommen.«
    Noch am selben Tag hatten die
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