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Unterland

Unterland

Titel: Unterland
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Augenschein zu nehmen. Sieh, was du angerichtet hast!
    Immer noch tat es gut, jemanden für unser Lager auf dem Fußboden verantwortlich machen zu können, auf dem wir Kopf an Fuß schliefen, zu viert auf zwei Matratzen zwischen hochkant gestellten Sperrholzkisten, die als Schränke dienten. Für den säuerlichen Hungergeruch, der an uns haftete wie ein ungewaschener Mantel, für die Kälte, die in die Knochen biss, für das Gekreisch aus der Küche: »Es ist unsere halbe Stunde! Ihr seid noch nicht dran!«
    Doch den immer gleichen schrillen Morgengruß und seine Urheberin hasste ich inzwischen mit größerer Inbrunst, als ich den Verräter je gehasst hatte. Mir kam es vor, als ob ein Tag, der so begann, von Anfang an gar nicht die Chance bekam, gut zu werden; mehr noch: als ob die Wranitzky uns diese Chance absichtlich nehmen wollte. Sie war eine knochige Riesin, die mit hängenden Armen leicht vornübergebeugt ging und stand wie ein sprungbereiter Affe. Taschen aus wabbliger Haut schlackerten um ihre Arme, Falten aus stachliger Haut kniffen ein Spinnennetz um ihren Mund, den fettigen schwarzen Stoffwickel um ihr Haar nahm sie nie ab. Ihre Blicke flitzten fortwährend auf und ab, wenn sie mit einem redet e – als wollte sie einem unter die Kleider schauen.
    Gu t – dass ihr zwei obere Vorderzähne fehlten, dafür konnte sie nichts, das war »der Pole« gewesen. Aber ich vermutete, dass mit den Vorderzähnen alles angefangen hatte. Eine Frau ohne Vorderzähne gönnte niemandem mehr etwas. Eine Frau ohne Vorderzähne hatte nur einen Wunsch: dass alle in ihrer Umgebung sich genauso mies und hässlich fühlten wie sie.
    Ich hasste sie, und sie hasste mich. Ach, Frau Sievers, Sie tun mir ja so leid wegen Ihrer Alice. Ich als Mutter kann so gut nachempfinden, was Sie durchmachen, nein, ach, was soll nur aus dem Mädchen werde n …?
    »Meine Alice wird einmal Wirtin der hübschesten Pension auf Helgoland«, antwortete Mem mit dem selbstverständlichsten Lächeln, und uns schärfte sie ein: »Wir müssen miteinander auskommen, Kinder, wir wissen nicht, wie lange. Lasst sie reden, kümmert euch nicht darum. Die arme Frau kann einem ja leidtun.«
    Ooti, die stets auf unserer Seite war, schüttelte ungehalten den Kopf. »Leidtun? Nehmt euch nicht zu viel vor. Denkt lieber daran: Wenn das alles hier vorbei ist, brauchen wir die Visage von der Wranitzky nie wieder zu sehen.«
    »Mutte r …!«, murmelte Mem vorwurfsvoll.
    Der Hass auf den Verräter war sinnvoll und gut gewesen, er hatte mich mit Energie durchpumpt. Der Hass auf die Wranitzky tat nichts dergleichen. Er laugte aus, hinterließ auf jedem neuen Tag seinen klebrigen, hässlichen Flecke n … und er lenkte ab. Obwohl wir Tag und Nacht zusammen gewesen waren, war mir nicht aufgefallen, dass mein Bruder die Orientierung verloren hatte. Monatelang hatten wir den Mann gejagt, der Helgolands Zerstörung auf dem Gewissen hatte, und kaum gewährte man ihm und uns eine Pause, ging Henry über Bord.
    Nicht mit Absicht, das war mir jetzt klar. Der Winter war einfach zu lang gewesen, und wenn es irgendetwas gab, um Henry wieder auf Kurs zu bringen, dann war es die Jagd nach dem Verräter.
    Warum nicht heute wieder damit anfangen? Es war ein besonderer Tag, das hatte ich keineswegs vergessen. Als wir zur Schule aufgebrochen waren, hatten die Fürstin und ihr Sohn vor der Tür gestanden, einen Quartierschein in der Hand, und die ersten Sekunden der Begegnung hatten genügt, um mich ahnen zu lassen, dass unser Haus eine neue Chance bekam.
    »Einen schönen guten Morgen, ist dies das Haus von Frau Elfriede Kindler?«
    Einen schönen guten Morgen! Eine leise, freundliche Stimme, die die Silben an den ungewöhnlichsten Stellen hob; wie ein Gesang, dachte ich und wusste auf der Stelle, dass die Worte genauso und nicht anders gesprochen gehörten und uns bis dahin nur noch niemand gezeigt hatte, wie es richtig ging. Eine Stimme, die den Morgengruß der Wranitzky aufhob, bedeutungslos, ja ungeschehen machte. Alles halb so schlimm! Der Winter ist vorbei!
    Ich beugte mich über das Gartentor, um es von der Straßenseite aus zu öffnen, da auf der Gartenseite der Griff fehlte. Gleichzeitig holte ich Luft, um Henry zu rufen, denn er war nur eine Minute vor mir aus dem Haus gegangen und jeder, der zu uns kam oder wieder ging, war vom Tor aus rund fünf Minuten vorher und nachher zu sehen. Das war das Praktische an der ganzen Zerstörung um uns herum.
    Merkwürdig war nur, dass ich Henry
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