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'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'

'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'

Titel: 'Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst'
Autoren: Jess Jochimsen
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Die Sache mit dem Rückenmark
    Mein Sohn Tom schießt den Vogel ab. Ich habe einen Hexenschuss und jammere, wie nur Männer es können, aber keiner hat Mitleid.
    Meine Mutter: »Stell dich nicht so an!«
    Meine Frau: »Wer hat denn behauptet, dass er den Schlafzimmerschrank locker alleine aufbauen kann?«
    Mein Arzt: »Sie sollten nicht so schwer heben.«
    Tom jedoch sagte: »Du hast wahrscheinlich zu viel ongarniert, davon schmilzt das Rückenmark.«
    »Ich habe bitte was?«
    »Zu viel ongarniert. Hat der Paul in der Schule erzählt. Wenn man das macht, kriegt man Kreuzschmerzen, weil das Rückenmark schmilzt. Was ist denn das überhaupt?«
    »Das Rückenmark? Das kann ich dir erklären, mein Sohn.«
    Und noch bevor er etwas sagen kann, halte ich ihm einen atemlosen Vortrag über jenen Teil des zentralenNervensystems, der eine ganze Menge könne, aber nicht schmelzen, ein ausgemachter Unsinn sei das, und überhaupt solle er nicht alles glauben, was der Paul sagt, weil der nämlich von nichts eine Ahnung habe, und vom Ongarnieren schon gleich zweimal nicht, und abgesehen davon seien meine Schmerzen muskulärer Natur, wegen des gottverdammten Schlafzimmerschrankes, und jetzt raus!
    Mein Sohn zieht verdattert von dannen und ich werde nachdenklich. Manche Dinge sind einfach nicht totzukriegen; schon zu meiner Zeit wurde man blind oder wahlweise blöd »davon«, und auch der »Rückenmarksschwund« fand häufige Erwähnung. Aber ein für alle Mal: Mit »Ongarnieren« hat das alles nichts zu tun.
    Wobei das Wort schön ist, ich schlage es hiermit der Gesellschaft für Deutsche Sprache (die ihren Sitz aus unerfindlichen Gründen in Mannheim hat) als Neuerfindung vor: »Ongarnieren ist skandinavischen Ursprungs und bezeichnet die Illusion, hässliche schwedische Möbel eigenhändig montieren zu können; zieht Schiefhängen des häuslichen Segens und der Bandscheiben nach sich.«
    Und jetzt ernsthaft: Irgendwann wird das »Rückenmark«-Thema wieder aufkommen, nicht sprachlich hoffentlich, sondern in Form von Flecken auf der Bayern-München-Bettwäsche meines Sohnes. Und ich weiß nicht, was ich dann schlimmer finden werde, die Flecken oder die Bettwäsche.
    Allein, ich werde das tun, was aufgeklärte Eltern tun sollten: ohne weitere Worte das Laken abziehen, es in die Waschmaschine schmeißen und ein neues holen – aus einem Schrank, den ich einst unter Schmerzen ongarniert habe.

Was die Großmutter noch wusste
    Ab und an verbringt mein Sohn Tom ein paar Tage bei seiner Oma. Was völlig in Ordnung ist. Schließlich ist er naturgemäß das tollste Enkelkind der Welt und sie die beste Oma von allen, wenn man mal von der Tatsache absieht, dass sie eben auch noch meine Mutter ist, weswegen ich den Störfaktor Nummer eins in der Oma-Enkel-Beziehung darstelle, wir andauernd streiten und ich ohnehin in der Erziehung alles falsch mache: »So kannst du ihn aber nicht rumlaufen lassen!« »Kriegt der Junge überhaupt genug zu essen?« »Wie habe ich das mit dir damals nur geschafft?« Egal. »Tom soll es einmal besser haben.«
    Der letzte Oma-Besuch allerdings wirkte nach.
    »Papa«, sagt mein pädagogisch runderneuerter und pausbäckiger Spross, als ich ihn ins Bett bringe, »die Oma wollte mich immer mit Nägeln zudecken.«
    »Sie wollte was?«
    »Na, mich mit Nägeln zudecken.«
    Meine Mutter hat zwar von autogenem Walfischgesang bis zu kosmischem Oberton-Stricken wenig an esoterischem Firlefanz ausgelassen, aber bei einem Fakir war sie meines Wissens noch nie. Tom erzählt denn auch, dass die Oma ihm zum Einschlafen immer »Guten Abend, gute Nacht« ins Ohr gebrüllt habe, und da gebe es doch diese Stelle: »Mit Röslein bedacht, mit Näglein bedeckt.«
    Ich brauche eine geschlagene Weile, Tom zu erklären, dass es sich in dem Lied nicht um Nägel handele, sondern um Nelken, was Blumen seien, die sich zwar durch irgendwelches Zauberwerk in diese kleinen Piksedinger verwandelten, welche man aber nicht unter die Bettdecke, sondern in den Kuchen tue.
    Als der Kleine dann schläft, kommt mir in den Sinn, dass meine Mutter mich seinerzeit auch mit diesem Lied zum Einschlafen bringen wollte; ebenfalls
     ohne Erfolg, allerdings wegen einer anderen Stelle: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« Und wenn er nicht will? Kein Auge tat ich
     zu. Was, wenn er es vergessen würde, dachte ich damals, schließlich hatte er ja bestimmt auch noch anderes zu tun. Und irgendwann, so stellte ich mir vor,
     in hundert Jahren oder
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