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Komm, dunkle Nacht

Komm, dunkle Nacht

Titel: Komm, dunkle Nacht
Autoren: Iris Johansen
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1
    Barat, Türkei
    11. Juni
    »Komm raus da, Sarah«, schrie Boyd von draußen. »Die Wand kann jeden Moment einstürzen.«
    »Monty hat was gefunden.« Sarah kletterte vorsichtig bis zu dem Trümmerhaufen, vor dem ihr Golden Retriever stand.
    »Ruhig, Junge, ganz ruhig.«
    Ein Kind?
    »Woher soll ich das wissen?« Monty hoffte immer, dass es ein Kind sein würde. Er liebte Kinder und es brachte ihn fast um, all diese vermissten und verletzten Kinder zu sehen. Genau wie mich, dachte Sarah erschöpft. Kinder und alte Leute zu finden war immer am schlimmsten. So wenige von ihnen überlebten diese Katastrophen. Die Erde bebte, die Mauern fielen ein und Leben wurden ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben.
    Raus.
    »Bist du sicher?«
    Raus.
    »Okay.« Geistesabwesend tätschelte sie Montys Kopf, während sie die Trümmer betrachtete. Das zweite Geschoss des kleinen Hauses war eingestürzt und die Chancen, dass unter den Trümmern noch jemand lebte, waren minimal. Sie hörte ein Stöhnen oder Weinen. Doch sie konnte es nicht verantworten, noch jemanden aus dem Rettungsteam hier reinzuholen. Auch sie sollte schleunigst verschwinden.
    Kind?

    O verdammt! Wozu Zeit verschwenden? Sie würde ja doch nicht eher rausgehen, bis sie nicht alles gründlich abgesucht hatte. Sie packte einen Hocker und schob ihn beiseite. »Geh zu Boyd, Monty.«
    Der Retriever setzte sich und sah sie an.
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, du musst wie ein Profi arbeiten. Und Profis gehorchen.«
    Hier bleiben.
    Sie warf ein Kissen zur Seite und zog an einem Sessel. Jesus, war der schwer. »Du kannst mir jetzt nicht helfen.«
    Hier bleiben.
    »Komm raus da, Sarah«, schrie Boyd. »Das ist ein Befehl. Es ist vier Tage her. Du weißt, dass wahrscheinlich niemand mehr am Leben ist.«
    »In Tegucigalpa haben wir nach zwölf Tagen noch einen Überlebenden gefunden. Aber tu mir den Gefallen und rufe Monty, Boyd.«
    »Monty!«
    Monty rührte sich nicht. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, einen Versuch war es wert gewesen. »Blöder Hund.«
    Hier bleiben.
    »Wenn du da drinbleibst, komme ich dir helfen«, sagte Boyd.
    »Nein, tu das nicht, ich komme sofort.« Sarah beäugte misstrauisch die hintere Wand, dann zog sie an einer Matratze, bis sie das Ding auf die Seite kippen konnte. »Ich sehe mich nur um.«
    »Ich gebe dir drei Minuten.«
    Drei Minuten. Sie zog verzweifelt an dem geschnitzten Kopfbrett eines Betts. Monty jaulte.
    »Schschsch.« Endlich gelang es ihr, das Brett zur Seite zu ziehen.

    Und dann sah sie die Hand.
    Eine kleine, zarte Hand, die eine Perlenschnur umklammerte …
    »Ein Überlebender?«, fragte Boyd, als Sarah aus dem Haus kam.
    »Müssen wir ein Team reinschicken?«
    Sie schüttelte benommen den Kopf. »Tot. Ein junges Mädchen. Seit zwei Tagen vielleicht. Bringe niemanden in Gefahr deswegen, aber markiere die Stelle.« Sie zog an Montys Leine. »Ich muss Monty hier rausbringen. Du weißt ja, wie sehr ihn das mitnimmt. In ein paar Stunden bin ich zurück.«
    »Ja, ich weiß, deinen Hund nimmt das mit«, sagte Boyd in sarkastischem Ton. »Und deshalb zitterst du wie Espenlaub, stimmt’s?«
    »Mir geht’s gut.«
    »Ich will dich vor morgen früh hier nicht mehr sehen. Du bist seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Du weißt, dass ein übermüdeter Helfer sich selbst und die Leute, denen er zu helfen versucht, in Lebensgefahr bringt. Es war unglaublich dumm von dir, dieses Risiko einzugehen! Normalerweise bist du doch vernünftiger.«
    »Monty war überzeugt, dass da jemand war.« Aber warum ließ sie sich auf diese Streiterei ein? Er hatte ja Recht. In Situationen wie dieser kam man nur dann mit dem Leben davon, wenn man sich an die Regeln hielt und nicht irgendwelchen plötzlichen Eingebungen folgte. Sie hätte sich danach richten sollen. »Tut mir Leid, Boyd.«
    »Na, hoffentlich.« Er verzog das Gesicht. »Du gehörst zu meinen besten Leuten und ich will nicht, dass du aus dem Team geworfen wirst, weil du anfängst, mit dem Herzen statt mit dem Kopf zu denken. Du hast nicht nur dich selber in Gefahr gebracht, sondern auch deinen Hund. Was hättest du gemacht, wenn die Wand eingestürzt wäre und Monty erschlagen hätte?«
    »Dazu wäre es nicht gekommen. Ich hätte mich auf ihn geworfen und du hättest die Mauer von mir runtergebuddelt.«
    Sie lächelte schwach. »Ich weiß schließlich, auf wen’s hier ankommt.«
    »Sehr komisch.« Er schüttelte den Kopf. »Und du meinst das auch noch ernst.«
    »Stimmt.« Sie
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