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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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    Du denkst , das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren, du seist der einzige Mensch auf der Welt, dem nichts von alldem jemals passieren wird, und dann geht es los, und eins nach dem anderen passiert dir all das genau so, wie es jedem anderen passiert.
     
    Deine nackten Füße auf dem kalten Boden, wenn du aus dem Bett steigst und zum Fenster gehst. Du bist sechs Jahre alt. Draußen fällt Schnee, und die Zweige der Bäume im Garten werden weiß.
     
    Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit. Vielleicht solltest du deine Geschichten fürs Erste einmal beiseitelegen und zu ergründen versuchen, wie das für dich war, in diesem Körper zu leben – vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute. Ein Katalog von Sinnesdaten. Was man eine
Phänomenologie des Atmens
nennen könnte.
     
    Du bist zehn Jahre alt, und die Hochsommerluft ist warm, drückend warm, so furchtbar schwül, dass dir, während du nur im Schatten der Bäume im Garten sitzt, der Schweiß auf die Stirn tritt.
     
    Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass du nicht mehr jung bist. Heute in einem Monat wirst du vierundsechzig, und wenngleich das nicht übermäßig alt ist, nicht das, was irgendjemand als fortgeschrittenes Alter bezeichnen würde, kannst du dich nicht der Gedanken an all die anderen erwehren, die es nicht geschafft haben, so weit zu kommen wie du. Dies ist ein Beispiel für die verschiedenen Dinge, die niemals passieren konnten, die aber tatsächlich passiert sind.
     
    Der Wind in deinem Gesicht bei dem Schneesturm letzte Woche. Die schneidende Kälte, und während du da draußen in den leeren Straßen dich fragtest, welcher Teufel dich ritt, bei einem so heftigen Sturm das Haus zu verlassen, kaum dass du dich auf den Beinen halten konntest, weckte dieser Wind zugleich Begeisterung in dir, das Vergnügen, die vertrauten Straßen in dem weißen Gestöber verschwinden zu sehen.
     
    Physische Freuden und physische Schmerzen. In erster Linie sexuelle Lust, aber auch die Lust am Essen und Trinken, der Genuss, nackt in einem warmen Bad zu liegen, sich das juckende Fell zu kratzen, zu niesen und zu furzen, eine weitere Stunde im Bett zu verbringen, an einem lauen Nachmittag im Spätfrühling oder Frühsommer dein Gesicht in die Sonne zu halten und die Wärme auf deiner Haut zu spüren. Unzählige Beispiele, kein Tag, der nicht den einen oder anderen physischen Genuss bescherte, und doch sind Schmerzen zweifellos beharrlicher und hartnäckiger, und im Lauf deines Lebens ist nahezu jeder Teil deines Körpers schon einmal Ziel einer Attacke gewesen. Augen und Ohren, Kopf und Hals, Schultern und Rücken, Arme und Beine, Rachen und Magen, Knöchel und Füße, zu schweigen von der riesigen Geschwulst, die einst auf deiner linken Arschbacke spross und die der Arzt als
Furunkel
bezeichnete, was sich in deinen Ohren wie eine mittelalterliche Krankheit anhörte und dir eine Woche lang das Sitzen unmöglich machte.
     
    Die Nähe deines kleinen Körpers zum Erdboden, des Körpers, der dir gehörte, als du drei oder vier Jahre alt warst, soll heißen, die kurze Entfernung zwischen deinen Füßen und deinem Kopf, und wie die Dinge, die du jetzt nicht mehr bemerkst, dir früher stets gegenwärtig und wichtig waren: die kleine Welt krabbelnder Ameisen und verlorener Münzen, abgebrochener Zweige und zerknickter Kronkorken, die Welt der Pusteblumen und Kleeblätter. Vor allem aber die Ameisen. An die erinnerst du dich am besten. Das Hin und Her der Ameisenheere um ihre sandigen Hügel.
     
    Du bist fünf Jahre alt, hockst vor einem Ameisenhaufen im Garten und studierst das Kommen und Gehen deiner winzigen sechsbeinigen Freunde. Ungesehen und ungehört schleicht dein dreijähriger Nachbar von hinten heran und schlägt dir mit einem Spielzeugrechen auf den Kopf. Die Zinken durchbohren deine Kopfhaut, Blut strömt dir ins Haar und in den Nacken, und du rennst kreischend ins Haus, wo deine Großmutter deine Wunden versorgt.
     
    Wie sagte deine Großmutter zu deiner Mutter: «Dein Vater wäre so ein wunderbarer Mann – wenn er nur anders wäre.»
     
    Heute früh, beim Aufwachen im Halbdunkel eines weiteren Januarmorgens, in dem grauen Dämmerlicht, das in dein Schlafzimmer dringt, erblickst du das Gesicht deiner Frau, dem deinen zugewandt, die Augen geschlossen, noch im Tiefschlaf, die Decke bis zum Hals
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