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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Tür und sah sie: zwei schmutzige Gestalten, wie aus einem schlechten Horrorfilm, fast amüsierte es ihn. Mutter und Tochter standen im Türrahmen, umschlangen einander mit den Armen.
    Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass er die Tür zum Ausgang hinter sich zugezogen hatte. Sie war nicht verriegelt, aber eigentlich war es auch egal. Selbst wenn sie jetzt einen Sprint wagten, sie würden es nicht schaffen, Lena schon gar nicht, in ihrem Zustand.
    «Josie, Josie», sagte er mit überzogenem Tadel in der Stimme. «Du bist die Erste, die das geschafft hat. Nicht einmal deinem Vater ist das gelungen.» Er sah, wie sich ihre Augen kurz weiteten. «Und ich habe verdammt oft dadrinnen gesessen.»
    «Was soll das?», fragte sie.
    «David, du kommst damit nicht durch», sagte Lena.
    Sie war schon fast zwei Jahre bei ihm, sie musste es doch besser wissen. Er ignorierte sie. «Wir sind eine Familie, Lena, ob du es willst oder nicht. Und wir werden zusammenbleiben.»
    «Wir werden gar nichts», schrie Josie nun. Sie machte einen Schritt nach vorne, aber Lena hielt sie zurück.
    Er schaute Lena überrascht an. «Hast du noch nicht mit ihr …» Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. «Kleines, ich hatte mir das eigentlich anders vorgestellt, einen schöneren Rahmen, das ist klar, aber jetzt können wir es uns nicht aussuchen.»

64
    Ich hatte keine fünf Minuten gehabt, um zu verstehen, was diese Frau, die sich Lena nannte, gesagt hatte. Verstehen, verarbeiten und abhaken. Vorerst jedenfalls.
    «Es ist egal, ob es stimmt oder nicht», hatte sie gesagt. «Er ist wahnsinnig, und er hat bereits zwei Mädchen hier gehabt. Er hat DNA -Tests machen lassen, und wenn sich herausgestellt hat, dass er nicht der Vater ist, hat er …»
    «Was?», fragte ich, aber ich ahnte die Antwort. «Was hat er?»
    «Weggebracht, er hat sie weggebracht.»
    Mir war klar, was das bedeutete.
    Abhaken, bläute ich mir ein, während wir auf ihn warteten. Und die eine Chance nutzen – wenn es eine geben würde.
    Mein Vater. Er wollte mein Vater sein. Und Lena sollte meine Mutter sein.
    Ich konnte keine große Ähnlichkeit entdecken, aber das war in dem Zustand, in dem sie sich befand, auch kein Wunder. Ich war ein wenig größer als sie, unsere Haarfarbe stimmte allerdings überein, dieses seltene satte Rot.
    «Warum hat er dich hier eingesperrt? Warum …» Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu bringen.
    «Es gibt kein Warum», sagte Lena. «Er ist ein Psycho. Es hat ihm Spaß gemacht. Er wollte mich leiden sehen.»
    Lena hatte ihn vor über siebzehn Jahren getroffen, nur einen Abend, nach einem Konzert. Sie war betrunken gewesen, hatte sich mit ihm eingelassen. Als sie ihn vor knapp zwei Jahren zufällig wiedergesehen hatte, war es zu einem Streit gekommen, er hatte sie verletzt, war in Panik geraten und hatte sie eingesperrt. Und hatte sich der fixen Idee hingegeben, Lenas Kind zu suchen, sein Kind, ihre gemeinsame Tochter, die Lena zur Adoption freigegeben hatte.
    «Spiel mit», flüsterte Lena mir zu, als er in der Tür erschien.
    Beim Anblick der Waffe in seiner Hand löste sich für einen kurzen Augenblick mein letzter Rest Mut in nichts auf, aber ich machte mit, so gut es ging, und tat so, als ahnte ich von nichts etwas. Ich spielte die Überraschte, als er mit seinem Gequatsche von einer Familie herausrückte, von Adoption und dass meine Eltern nicht meine Eltern seien, nicht die leiblichen, nicht die echten.
    Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, nicht das Kind meines Vaters sein zu müssen! Ich erinnerte mich, wie ich versucht hatte, Mama von ihm loszueisen, es gibt einen neuen Anfang, hatte ich gesagt, aber sie hatte zu ihm gestanden. Und jetzt sehnte ich mich nach unserer Küche, der Eckbank, nach allem, sogar nach der Enge des Lebens mit den Brüdern des Lichts.
    Ich packte folgsam ein paar Sachen in eine Tasche, als er es mir befahl, und ich achtete darauf, dass ich Lena immer im Blick behielt, dass sie immer in meiner Nähe blieb. Egal, was sie war, egal, wie elend es ihr ging – im Moment war sie die einzige Hoffnung.
    Wir müssen erst einmal hier raus, ermahnte ich mich immer wieder, aber es fiel mir schwer, die Nerven zu behalten. Der Gedanke, dass es wahr sein könnte, schüttelte mich immer wieder durch.
    «Wir müssen uns leider ein neues Zuhause suchen», teilte er uns am Ende mit, aber er führte uns nicht hinaus. Stattdessen sperrte er uns wieder in die Zelle, der ich mit so viel Mühe
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