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Fluegelschlag

Titel: Fluegelschlag
Autoren: Jeanine Krock
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W ie ein einsamer Tänzer in Trance breitete er die Arme aus und hob das Gesicht dem Himmel entgegen. Die aufgehende Sonne zeichnete messerscharfe Kontraste in die Felsen, und ohne hinzusehen wusste er, dass sein weißes Gewand für wenige Sekunden blutrot leuchten würde, bevor der Tag die Farben der Welt bestimmte. Als es so weit war, ließ er sich im festen Glauben an die Unsterblichkeit rücklings in die Tiefe fallen. Weit unten im Tal, wo die Nacht noch hauste, bremsten dunkle Schatten seinen Flug, genau, wie er es vorausgeahnt hatte. Gleich darauf hätte ein wahrhaft Sehender den Aufstieg des Schattengeborenen in das klare Blau des Sommermorgens beobachten können. Doch außer dem Adler gab es hier niemanden, der dieses Wunder je geschaut hatte.
    Grenzenlose Leichtigkeit überwältigte Arian. In keinem anderen Augenblick konnte er sich mehr spüren als im freien Fall, und nirgendwo anders als in diesem heiligen Gebirge am Rande der Welt durfte er es sich gestatten, überhaupt ein Gefühl zuzulassen. Als habe er auf ihn gewartet, gesellte sich der Wind zu ihm. Kennst du deine Grenzen? , raunte er und zerrte an seinen Kleidern, als wollte er den verführerischen Versprechungen von Freiheit Nachdruck verleihen. Doch Arian wusste es besser, als einem Luftgeist zu vertrauen. Ein Teil dieses Universums zu sein,
bedeutete auch, sich darin verlieren zu können. Sicherheit und Hochmut waren gefährliche Schwestern.
    Arian rollte sich im Flug herum und begann seinen Aufstieg in die über ihm aufgespannte Unendlichkeit. Als er viel zu früh wieder festen Boden unter den Füßen spürte, legte sich sofort eine undurchsichtige Maske über sein Gesicht.
     
    »Komm!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Nephthys um.
    Anstatt zu folgen, blieb er einen Augenblick lang stehen und sah ihr nach. Das flüsternde Versprechen ihrer Bewegungen war nicht zu übersehen und doch auf unheimliche Weise kühl. Sie war wahrscheinlich eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte - ganz gewiss aber war sie die kaltherzigste, und Arian kannte niemanden, der sie überhaupt je berührt hätte. Gerade als sie sich zu ihm umdrehen wollte, setzte er sich in Bewegung. Jeder Wimpernschlag, den er tat, ohne seinen absoluten Gehorsam zu demonstrieren, wie sie ihn von all ihren Kriegern verlangte, war ihm unendlich kostbar. Er ahnte, dass sie ihn nur gewähren ließ, weil es ihr gefiel. Dies war ein altes Spiel zwischen ihnen beiden, das seine Faszination niemals zu verlieren schien.
    Wortlos schritt er neben ihr durch die langen Gänge, bis sie nach vielen Drehungen und Wendungen, Treppen und Türen ein geräumiges Büro erreichten. Lautlos schlossen sich die Wände hinter ihnen, und er wusste, was in diesem Raum gesprochen wurde, würde keinen Weg hinausfinden. Hier wurde das Schicksal gemacht, nicht verkündet. Er war einer der Besten, und nichts an ihm verriet seine Gedanken.

    Das war auch gar nicht erforderlich, denn Nephthys entging selten etwas. Beste Voraussetzungen für die Herrin der Vigilie, deren Krieger sie als Wächter in die Welt hinausschickte. Und dennoch hatte sie in der langen Zeit, die er nun schon für sie arbeitete, nicht ein einziges Mal erkennen lassen, dass sie von der ungeheueren Abnormität wusste, die sein Inneres beherrschte. Arian senkte den Blick, wie es Brauch war, und wartete.
    »Sieh mich an!« Die Art, wie sie ihn betrachtete, ohne auch nur einmal zu blinzeln, erinnerte an ein Reptil auf der Jagd.
    Er ließ sich Zeit, dann hob er den Kopf ein wenig höher als notwendig und sah ihr direkt in die Augen. In ihm brach ein Feuer aus, jede Faser seines Körpers schrie gepeinigt auf und verlangte, er solle sich klein machen, fliehen, im hintersten Winkel dieser Welt verbergen; alles tun, um ihrem Zorn zu entgehen. Unwillkürlich nahm er die Schultern zurück. Die Füße leicht auseinander, fest auf dem Boden: Alles an seiner Haltung verriet den Krieger.
    »Was soll ich nur mit dir machen?« Nephthys kehrte ihm den Rücken zu und ging ein paar Schritte. Ihre Schultern wirkten steif, als könne sie weder seinen Anblick noch seine Nähe länger ertragen. »Du hättest es mir sagen müssen!«
    Arian schwieg.
    Er wurde für seine Geduld belohnt, als sie endlich fortfuhr: »Es ist nicht deine Schuld.« Sie hatte die Sterblichen lange studiert und verstand es, Wärme in ihre Worte zu legen.
    Doch Arian ließ sich nicht täuschen: Es hatte andere wie ihn gegeben, doch keiner weilte noch unter ihnen. Als er an Gabriel
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