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Fluegelschlag

Titel: Fluegelschlag
Autoren: Jeanine Krock
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abwenden, um ihn seinem wohlverdienten Genesungsschlaf zu überlassen, da sagte er: »Es tut mir leid!«
    Was genau er bedauerte, erfuhr Juna nicht, denn im gleichen Augenblick hörte sie einen Hund bellen. Lautlos
schloss sie die Tür zwischen Wohnküche und Behandlungszimmer, und eine Sekunde später sprang Finn aufgeregt auf sie zu. Sie wandte sich ab, und er verstand ihr Signal. Erwartungsvoll setzte er sich auf die Hinterbeine. Juna konnte nie lange streng bleiben, also warf sie ihm einen Leckerbissen zu und blickte zur Tür.
    Gleich darauf kam Iris in die Küche gestürmt, sah Juna an und blieb abrupt stehen. »Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet!« Sie zog ihren Mantel aus, warf ihn über die Stuhllehne und kam näher.
    Juna schüttelte den Kopf. Ihre Freundin hatte ein Talent, haarscharf an der Wahrheit vorbeizuschrammen. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
    »Hey, das ist freaky! Du wirst ja totenblass!« Iris wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, da begann Finn leise zu knurren. »Still, du Ungeheuer!« Sie hockte sich hin, um den Hund zu kraulen, der sich schnell beruhigte, hinlegte und dann sogar auf den Rücken drehte, damit sie seinen Bauch streicheln konnte. Juna atmete ein paar Mal tief durch, bis sie sich besser fühlte, und sah dann den beiden zu.
    Vor etwa einem Jahr hatte Iris in der Tierarztpraxis von Junas Großvater Duncan MacDonnell gestanden. Im Arm hatte sie ein zitterndes Fellknäuel gehalten und verlangt: »Mach … es heile!«
    Juna erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen: Sie hätte nicht sagen können, was mehr stank, der Hund, dessen Körper mit getrocknetem Blut überzogen war, oder das Mädchen, das ihn ihr entgegenstreckte. Es war erst wenige Wochen her gewesen, dass sie nach Glasgow gezogen war. Den Geruch von Buckfast, einem hochprozentigen süßen Wein, den zumindest in diesem Stadtteil jeder zu trinken schien,
kannte sie allerdings bereits von früheren Aufenthalten. Und sie musste die Flasche nicht sehen, die in der Manteltasche ihrer abendlichen Besucherin steckte, um zu wissen, dass diese reichlich davon getrunken hatte. Gewiss mehr, als ihr guttat, so wie sie schwankend versuchte, im Türrahmen Halt zu finden. »Komm rein! Der Doktor hat gleich Zeit für euch.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte sie: »Möchtest du eine Tasse Tee?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab. Die Sprechstunde war längst vorüber, aber jeder wusste, dass Doktor MacDonnell niemanden abwies, egal, wie spät es war. Juna drehte sich um und ging am Empfangsschreibtisch vorbei durch das Wartezimmer. Eine der Türen führte in den Behandlungsraum der Praxis, die zweite in ihre Wohnküche. Sie nahm die Pfanne vom Herd und drehte das Gas aus. Während sie einen Kessel mit Wasser füllte und drei Tassen aus dem Schrank nahm, sah sie durch die offene Tür, wie sich die späte Besucherin vorsichtig auf einem Stuhl im Wartezimmer niederließ, ohne den Blick nur einmal zu heben.
    »Milch, Zucker?«, fragte sie laut, um das Rauschen des Wasserkessels zu übertönen. Als sie keine Antwort erhielt, braute sie den Tee in allen drei Tassen gleich: »Zwei Löffel Zucker und Milch ohne Rahm, nur so kann ein Schotte dieses Gebräu genießen!«, pflegte ihr Großvater auch noch bei der zehnten Tasse des Tages vor sich hin zu murmeln. Als Juna alt genug war, um selbst Tee trinken zu dürfen, tat sie es ihm gleich. Seither war er ihr Heilmittel in fast allen Lebenslagen. Ob sie Bauchschmerzen hatte oder unglücklich war, eine gute Tasse Tee rückte vieles im Leben wieder zurecht.
    Doktor MacDonnell nahm sich der beiden Streuner an.
Der Hund, den Iris angeblich in einem Pappkarton gefunden hatte, bestand vorwiegend aus Fell und Knochen. Sein linkes Ohr war nur halb so lang wie das rechte, und der Rücken war von einem bösen Ekzem überzogen. Deshalb wollte er das Tier über Nacht dabehalten. Und seine Rechnung ging auf: Iris weigerte sich, Finn, wie sie den Welpen nannte, allein zu lassen. Also durfte sie ebenfalls bleiben. »Nur bis morgen«, hatte sie verkündet und war auch tatsächlich am folgenden Tag wieder verschwunden. Nicht ohne Jeans und Shirt ihrer Gastgeberin, die sie nach einer ausgiebigen Dusche widerspruchslos angezogen hatte.
    Wenige Wochen später kehrte Juna am Ende eines besonders scheußlichen Regentags spät aus Edinburgh zurück, wo sie Tiermedizin studierte. Finn saß unter dem schmalen Vordach ihrer Eingangstür.
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