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Fluegelschlag

Titel: Fluegelschlag
Autoren: Jeanine Krock
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wenig gerechnet wie mit den unterschiedlichen Emotionen, die sein Gesicht wie flüchtige Schatten streiften: Erschrecken, Ärger... schließlich
Resignation und gleich darauf nur noch Leere. Junas Herz schmerzte bei diesem Anblick. Doch sofort schalt sie sich eine dumme Gans. Was kümmerten sie die Befindlichkeiten dieses Einbrechers? Und plötzlich hoffte sie, dass er dies auch war: nur ein Eindringling, der glaubte, es gäbe in ihrem Haus etwas zu holen. Sie umfasste den Besenstiel fester.
    »Wer bist du?«, fragte er scharf.
    Juna wusste, sie hätte verschwinden sollen; die Tür schließen, einfach raus, unter Menschen, egal wohin, nur einfach weit weg von diesem Fremden. Stattdessen blieb sie stehen und entgegnete vehementer als geplant: »Wer ich bin? Jedenfalls niemand, der in fremden Häusern herumschleicht und Kilts klaut!« Sofort bereute sie ihre freche Antwort. Es war vermutlich nicht besonders klug, mit einem auf frischer Tat ertappten Einbrecher zu streiten, der noch dazu einen Kopf größer als sie war und nicht besonders schwächlich wirkte. Misstrauisch umklammerte sie ihre Waffe.
    Der Mann vor ihr hielt den Kopf ein wenig schräg, als dächte er nach. Ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht, was ihm einen jungenhaften Charme verlieh, den sie zuvor nicht an ihm bemerkt hatte. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, hätte Hilfe rufen sollen, als noch Zeit dafür war. Unter normalen Umständen mochte der Fremde ein netter Kerl sein, doch er war offensichtlich in Schwierigkeiten, und das machte die meisten Menschen unberechenbar. Warum hörte sie nie auf ihre innere Stimme? Jetzt war es zu spät, um noch fliehen zu können. Schon streckte er die Hand nach ihr aus - da taumelte er plötzlich und stürzte schwer auf die Knie.
    »Du bist verletzt!« Juna vergaß alle Vorsicht und verließ ihren strategisch günstigen Platz an der Tür, um ihm aufzuhelfen.
Blut hatte das weiße Hemd an der linken Schulter rot gefärbt. Der Fleck wurde schnell größer, und kurz hatte sie die Vision von einer Romanheldin, die beherzt ihre Unterwäsche in Streifen riss, um den Geliebten zu verbinden. Hier war solcherlei Aufopferung natürlich nicht angebracht, denn ihnen stand eine gut ausgestattete Arztpraxis zur Verfügung. Die Frage war nur, wie sie ihn dorthin schaffen sollte. Er war jetzt sehr blass unter seiner leichten Bräune und stützte sich schwer auf ihren Arm, während er sich langsam wieder aufrichtete und ihren leisen Anweisungen widerstandslos folgte. Juna bemühte sich, ihn ihre Verwunderung nicht spüren zu lassen. Ich sollte dankbar sein, dass er keine Schwierigkeiten macht, dachte sie und führte den Fremden über den Flur und durch das leere Wartezimmer in den Behandlungsraum. Zweifellos wäre es klüger, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Der Tisch aus Edelstahl, auf dem vorwiegend Vierbeiner behandelt wurden, war für einen menschlichen Patienten ungeeignet.
    Ihr Blick fiel auf den alten Ledersessel, in dem normalerweise ihr Großvater saß, um bei einer Tasse Tee in der Mittagszeit seine Zeitung zu lesen und nicht selten auch ein Nickerchen zu machen. Aber Duncan MacDonnell war in Kanada. Und er hätte gewiss nichts dagegen gehabt, dass sie dem Unbekannten half, denn gelegentlich verarztete er selbst einen Verletzten, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fiel, und scherte sich nicht im Geringsten darum, ob es legal war, dass ein Tierarzt dies tat. Juna schickte er allerdings immer aus dem Zimmer. Mehr als einmal hatte sie heimlich gelauscht, wenn zu später Stunde einer dieser besonderen Patienten behandelt wurde. Meist ging die Initiative von Frauen aus, die ihre Brüder, Söhne oder Freunde
herbeischleppten, weil die Ärzte in diesem Stadtteil verpflichtet waren, Verletzungen zu melden, die von Auseinandersetzungen rivalisierender Gangs herrühren könnten. Eine einfache Stichwunde konnte »McVet«, wie sie ihn liebevoll nannten, ebenso gut zusammenflicken.
    Jetzt trat Juna also in seine Fußstapfen. Langsam geleitete sie ihren Patienten durch den Raum und half ihm, sich in den Ledersessel zu setzen. Nachdem sie sich die Hände gewaschen, Handschuhe übergezogen und einen Mundschutz angelegt hatte, beugte sie sich über ihn. Von seiner Aura war nun nichts mehr zu spüren, und sie fragte sich, ob sie Opfer ihrer lebhaften Fantasie geworden war. Darüber würde sie später nachdenken.
    Der Mann atmete schwer, und die Verletzung an seiner Schulter bildete sie sich nicht ein. Die Blutung war zwar
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