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Tod für Don Juan

Tod für Don Juan

Titel: Tod für Don Juan
Autoren: Colin Dexter
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1
     
    Es
ist nicht unmöglich, in Gesellschaft einer Mätresse von Langeweile überwältigt
zu werden. (Stendhal)
     
    Die leere Flasche Moët et
Chandon Brut Imperial mit dem roten Etikett stand auf dem Nachttisch zu
ihrer Linken, leer wie das Champagnerglas daneben und das Champagnerglas auf
der anderen Seite des Bettes. Leere überall. Neben ihr lag ein schlanker,
zierlich gebauter Mann Anfang Vierzig, ein paar Jahre älter als sie, reglos auf
dem Rücken. Die Hände hatte er hinter dem Kopf verschränkt, die Augen
geschlossen. Er schlug sie auch dann nicht auf, als sie die geblümte Steppdecke
zurückschlug, aufstand, in pelzgefütterte Hausschuhe schlüpfte und sich einen
rosa Morgenrock überwarf, unter dem sich Brüste, Bauch und Schenkel vielleicht
eine Spur zu üppig abzeichneten. Sie trat ans Fenster und spähte durch einen
Spalt zwischen den vorgezogenen Vorhängen.
    Ihrem Taschenkalender, einem
Oxford University Pocket Diary, hätte sie entnehmen können, daß an jenem
Mittwoch Ende Oktober der Sonnenuntergang für 16.50 verzeichnet war. Die
Sommerzeit war am letzten Wochenende zu Ende gegangen, und die Abende wurden,
wie man so schön sagt, rasch länger. Sie hatte sich immer schwergetan mit dem
Vor- und Zurückstellen der Uhr, bis ihr in Radio Oxford ein simpler kleiner
Merksatz zu Ohren gekommen war, der ihr gefallen hatte: Frühling vorwärts,
Herbst hintennach.
    Heute aber war es draußen viel
zu früh schon dunkel geworden, und noch immer schlug prasselnd der Regen gegen
die Scheiben. Die Straßenlaterne von gegenüber warf einen orangefarbenen
Schimmer über den schwarzglänzenden Asphalt.
    In der Grundschule hatten sie
nachmittags mal eine Themseszene malen müssen, und alle Kinder hatten den Fluß
blau gemalt. Nur sie nicht. Und da hatte die Lehrerin den Unterricht
unterbrochen — mitten im Fluß gewissermaßen — und verkündet, Sheila Williams
habe als einzige den wahren Künstlerblick. Warum? Weil die Themse grau sein
konnte oder weiß oder braun oder grün oder gelb — nur eben aus den Kästchen mit
Oxfordblau und Cambridgeblau und Kobalt und Ultramarin, in denen die nassen
Pinsel herumrührten, durfte die Farbe des Flusses auf gar keinen Fall kommen.
Also fangt bitte noch mal von vorn an und versucht, die Farben zu malen, die
ihr seht, und nicht die, die ihr von den Postkarten und den Atlanten her in
Erinnerung habt. Bis auf Sheila natürlich. Denn Sheila hatte das Wasser schwarz
gemalt.
    So schwarz wie die spiegelnde
Straße dort unten.
    Ja.
    Überall Schwärze.
    Sheila zog den dünnen
Morgenrock fester um sich. Sie wußte, daß er wach war, daß er sie beobachtete,
wahrscheinlich an seine Frau dachte — oder an irgendeine Frau. Warum schickte
sie ihn nicht weg? Warum vertrieb sie ihn nicht aus ihrem Bett, aus ihrem
Leben? Vielleicht, weil sie ihn dringender brauchte als er sie? Das war nicht
immer so gewesen.
    Und dann stellte sie die Frage,
so schwer es ihr auch fiel: «Bis vor kurzem waren wir doch glücklich
miteinander, nicht?»
    «Was?» Das Schluß-s zischte.
    Sie wandte sich um. Der
Schnauzer und der sauber geschnittene Spitzbart umgaben dunkel seinen Mund, der
ihr manchmal zu klein vorkam. Klein, kleinlich und — ja, verdammt arrogant.
    «Ich muß gehen.» Unvermittelt
setzte er sich auf und langte nach seinem Hemd.
    «Sehen wir uns morgen?» fragte
sie leise.
    «Wird sich kaum vermeiden
lassen.» Er sprach mit lehrerhafter Präzision, sorgfältig ausformulierten
Konsonanten, der Andeutung eines Lispelns.
    «Hinterher, meine ich...»
    «Hinterher? Ausgeschlossen.
Völlig ausgeschlossen. Morgen abend müssen wir uns ganz auf unsere
amerikanischen Gäste konzentrieren. Eine eminent wichtige Aufgabe, wie du
weißt. Vor zehn kommen wir dort bestimmt nicht weg, und dann — »
    «...mußt du natürlich nach
Hause.»
    «Natürlich. Und du weißt auch,
warum. Dumm bist du nämlich nicht...»
    Sheila nickte bedrückt. «Du
könntest vorher hier vorbeikommen.»
    «Nein.»
    «Auf einen Drink. Zur Stärkung
vorher — »
    «Nein.»
    «Ja, dann...»
    «Außerdem ist es der Leber und angrenzenden
Organen sehr bekömmlich, zwischendurch mal Pause zu machen. Ein, zwei Tage in
der Woche ohne Alkohol, Sheila... Ob du das durchhalten würdest?»
    Er hatte sich rasch angezogen,
jetzt knüpfte er mit schlanken Fingern die braune Fliege zu der gewohnten
schlapp-dekadenten Schleife. Sheila fiel nichts Passendes mehr ein. Wieder
wandte sie sich zum Fenster. Wenig später spürte sie seine Hand auf
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