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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Wochen knisterten nun jedoch die Nadeln der Fichten, die das Areal eng umstanden. Er kannte die genaue Zahl, so wie er jeden Raum der Villa kannte und jeden Winkel der Baracken auf der Rückseite mit den Schlafsälen, in denen die Stockbetten immer noch vor sich hin rosteten. Diese Bretterbuden standen in einem merkwürdigen Kontrast zur fast märchenhaft anmutenden Verspieltheit des Haupthauses. Im Winter hatten sie immer gefroren, im Sommer waren es Brutkästen gewesen.
    Links und rechts von der Zufahrt zogen sich Mauern. Wer nicht wusste, dass sie von einbetonierten Glasscherben gekrönt wurden, den erwartete beim Hinüberklettern eine blutige Überraschung.
    Tommi hatte es einmal gewagt; zwei Finger hatte es ihn gekostet. Sie waren nicht abgetrennt worden, so scharf waren die Kanten nicht. Sein Fluchtversuch war mit acht Tagen im Bunker geahndet worden. Acht Tage, in denen die Entzündung so weit fortgeschritten war, dass der Daumen und der Zeigefinger geopfert werden mussten. «Du wirst ein Leben lang daran denken», hatte Bolheim gesagt. Als würden sie nicht alle ein Leben lang daran denken, was sie in Kleinsdorff erlebt hatten. Dazu bedurfte es keiner schlecht vernähter Stummel an der Hand. Es dauerte lange, bis er sich daran gewöhnt hatte.
    Er öffnete beide Flügel des Tors bis zum Anschlag, fuhr hinein und hielt nicht an, um sie hinter sich zu verschließen, wie er es sonst immer tat. Der Aufenthalt würde nicht lange dauern. Vielleicht war es auch nötig, das Anwesen schnell und ohne Hindernisse verlassen zu können. Er parkte Tschelchers Opel hinter dem Haus; von der Straße aus, die hinunter ins Tal führte, war das Auto so nicht zu sehen.
    Die
Kleinsdorffer Privatbrauerei
hatte den Krieg nicht überlebt, von dem ehedem
Herzoglichen Hoflieferanten
waren nur das Haus der Eigentümer und der Eiskeller aus dem neunzehnten Jahrhundert übrig geblieben. In dem unterirdischen Labyrinth zur Kühlung des untergärigen Biers hatten zwei jüdische Familien, eine Handvoll Anarchisten, am Ende dann auch ein paar deutsche Deserteure überlebt.
    Damit war die gute Zeit für das Areal vorüber gewesen. Was danach folgte, fand in keiner Chronik mehr Erwähnung. In der Villa hatte man auch später noch die kyrillischen Schriftzeichen finden können, an Türrahmen und an den Verschlägen, die sie im Eiskeller eingerichtet hatten. Die Sowjets hatten die Gebäude eine Zeitlang als Knast und Lager genutzt; die Lage war attraktiv gewesen, weit außerhalb, keiner hörte etwas, und in dem ausgedehnten Waldgebiet verschwanden die Leichen, wenn bei den Verhören jemand draufging. Irgendwann Ende der Sechziger hatten sie den Jugendwerkhof eingerichtet.
    Die Bewohner des Jugendwerkhofs hatten die unterirdischen Gemäuer aus roten Backsteinen nur den
Bunker
genannt. Die Villa war für die Günstlinge. Zu denen hatte Tommi nie gehört, Monk auch nicht, aber irgendwann hatten sie dann auch ein Zimmer vorne bekommen. Die Baracken waren für alle anderen. Der Bunker für den Dreck.
    Der Zugang lag versteckt am nordwestlichen Ende des Grundstücks; fast vollständig von Sträuchern und einer Hecke aus wehrhaften Brombeerbüschen eingewachsen, entging er den Besuchern, die sich nicht auskannten. Er bestand aus einer kleinen Pforte, die eher an das Portal eines kleinen Mausoleums erinnerte. Eine rostbraune Kette sicherte das eiserne Gitter davor, und nur das hochmoderne elektronische Schloss, das sie zusammenhielt, wies darauf hin, dass hier auch heute etwas Wertvolles zu sichern war.
    Er atmete noch einmal die frische Morgenluft ein. Der Duft der Fichten würde ihm fehlen. Die Belüftungsschächte im Inneren des Kellers stellten eine Meisterleistung dar, auch ohne Ventilatoren oder andere technische Hilfsmittel versorgten sie die Anlage – obwohl sie sich über mehrere hundert Quadratmeter erstreckte. Ohne das eingelagerte Eis herrschten im Sommer sogar erträgliche Temperaturen.
    Als Junge hatte es ihn fasziniert, dass sie früher sogar Eis aus Norwegen importierten, um die Kühlung sicherzustellen. Jemand habe das Skelett eines Trolls gefunden, hatte einer der Jungs ihm weismachen wollen, ein Trollbaby, das sich verirrt hatte, eingefroren war und dann auf einem Segelschiff mit der Lieferung des Eises hier im fremden Wald gelandet war. Er hatte den Jungen verprügelt, war einen Tag in den Bunker gegangen. Und hatte danach die Augen offen gehalten. Vielleicht hatte der Junge doch recht gehabt.
    Gebückt durchschritt er den niedrigen
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