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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Durchgang und verschwand unter der Erde.

62
    Ich flößte der Frau ein paar Tropfen Wasser ein. Sie war in einem entsetzlichen Zustand, so mager, die aschfahle Haut hing an ihren Knochen. Ihre Haare waren stumpf, stellenweise verfilzt – und rot. Tiefrot mit ein paar Strähnen, in die sich weiße Fäden geschlichen hatten. Die Haare, die ich in dem Abfluss des Beckens im Waschraum gefunden hatte, mussten von ihr stammen.
    Ohne ein Wort zu sprechen, führte ich sie aus ihrer Zelle, die genau wie der Raum, in dem er mich gefangen gehalten hatte, nur von einem altmodischen, aber dafür umso widerstandsfähigeren Riegel aus erbarmungslosem Eisen gesichert war. Der Gegensatz zu der neuesten Technik der Kameras und des Computers in seiner Überwachungszentrale konnte nicht augenfälliger sein.
    Ihr Gefängnis glich in nichts dem Zimmer, das er für mich bereitet hatte. Es war ein Loch, von einer schwachen Funzel beleuchtet, eine Pritsche, kahle Wände, ein Holzstuhl und ein Tisch und ein Blecheimer, in den sie ihre Notdurft verrichten musste. So ausgehungert und ausgetrocknet, wie sie war, hatte sie den Eimer kaum gebraucht.
    Das Alter der Frau war schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich war sie viel jünger, als sie in diesem erbärmlichen Zustand wirkte. Sie war so ausgemergelt wie einige der alten Leute im Heim, wenn sie schon wochenlang mit dem Tod gekämpft hatten, ihr Körper jegliche Kraft aus jeder Faser, aus jeder Zelle gezogen hatte, ihre Seele und ihr Geist aber nicht loslassen wollten. «Es ist, als fräßen sie sich selbst auf», hatte die Schwester Oberin einmal über einen unserer Insassen gesagt, und ich hatte bei dem Gedanken gegen die Tränen kämpfen müssen. Nächtelang hatte ich von diesem Bild geträumt.
    Das schmutzige Sweatshirt und die Jogginghose schlotterten an der Frau. Außer ein paar Badeschlappen besaß sie nichts für die knochigen Füße, denen man ansah, dass sie einmal an das Tragen von engen Pumps gewöhnt gewesen waren. Jetzt starrten sie vor Dreck.
    Was hatte dieser Mistkerl ihr angetan? Wie lange hielt er sie hier gefangen und warum? Warum hatte er sie in dieses Rattenloch gesteckt, während er mich gehätschelt und verwöhnt hatte?
    Ich musste verbittert lachen. Verwöhnt. Du bist eine dumme Kuh, Josie, dachte ich, er hat dich nicht verwöhnt, er hat dich eingesperrt und gequält. Auch wenn er dich nicht ein einziges Mal angerührt hat. Vielleicht sah ich in dieser Frau das, was auch aus mir werden würde, wenn wir nicht aus diesem Verlies herauskamen.
    Sie war so schwach, dass wir alle paar Schritte stehenbleiben mussten. Es brauchte eine Ewigkeit, bis wir den kurzen Weg durch den Flur, an meiner Zelle vorbei bis in den Raum, bei dessen Anblick mir schwindelig geworden war, zurückgelegt hatten.
    «Ich bin Josie», flüsterte ich.
    Eine Antwort bekam ich nicht, nur ein leiser Druck ihrer Hand zeugte davon, dass sie mich wahrnahm. Ihre Augen deuteten auf den Becher in meiner Hand. Ich setzte ihn wieder an ihre Lippen.
    Dieser Mistkerl hatte ihr zwar auch das Nötigste hinterlassen, die leeren Wasserflaschen in ihrer Zelle zeugten davon, aber es war für die erschöpfte Person zu wenig gewesen. Außerdem war ich mir mittlerweile sicher, dass er längst hätte zurück sein müssen. Etwas musste dazwischengekommen sein, etwas hatte ihn aufgehalten.
    Ich wagte nicht, mir auszumalen, was mit uns geschehen würde, wenn er vielleicht einen Unfall gehabt hatte, im Krankenhaus lag oder, noch schlimmer, wenn er ums Leben gekommen war. Sosehr ich ihm das wünschte, ihm jede Pest und auch den grausamsten Tod wünschte – es hätte auch unseren Tod bedeutet.
    Die Frau neben mir auf dem Sofa stöhnte. Ich hatte bei dem Gedanken an ihn ihre Hand gedrückt, fest gedrückt, fast zerquetscht. Ihre Kraft reichte nicht, um den Kopf von meiner Schulter zu heben. «Du tust mir weh», krächzte sie. Ihre Stimme klang eingerostet. Vielleicht hatte sie genau wie ich nicht mit ihm gesprochen!
    Ein Lächeln huschte über meine Miene, des Gedankens wegen und weil der Klang dieser wenigen Worte so guttat. Am liebsten hätte ich ihr gleich zehn verschiedene Fragen gestellt – wer sie war, woher sie kam, wie lange sie schon hier war? –, aber ich wusste, dass wir eigentlich keine Zeit verlieren durften.
    Vorsichtig schob ich ihren Oberkörper so, dass sie aus eigener Kraft auf dem Polster sitzen konnte. Ich stopfte eines der fadenscheinigen Kissen in ihren Rücken und schloss ihre Hände vorsichtig um den
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