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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Rohrbruch gesprochen hatte. Irgendwo musste ein Haupthahn sein, an dem er die Wasserzufuhr unterbrochen hatte. Ich suchte nicht danach, sondern tastete die Wände ab, bis ich einen Lichtschalter fand.
    Das grelle Licht der Leuchtstoffröhren blendete mich, ich schützte die Augen mit dem Unterarm, linste nur vorsichtig darunter hervor, verlor aber so wenig Zeit wie möglich.
    Die Tür gegenüber war nicht verschlossen. Aus dem Waschraum fiel fahles Licht in den Flur. Ich horchte, bewegte mich dann aber schnell über den kalten Betonboden. Füße, Beine, alles schmerzte, jeder Schritt strahlte brennende Signale aus, als schieße jemand Säure durch meine Nervenbahnen.
    Auf der linken Seite lagen die von den schweren Riegeln gesicherten Zellen, die letzte war meine. War meine gewesen. Es wurde mir erst jetzt bewusst. Freude schwappte durch mich hindurch; sie begann in den Ohren, verrückt, in den Ohren, aber dort pulsierte sie zuerst und breitete sich warm und weich aus, so wie vorher der Schmerz alles durchzogen hatte.
    Schmerz und Freude. Das war alles, was zählte, andere Gefühle gab es nicht. Und jetzt war es Freude. Ich stieß einen fast lautlosen Schrei aus.
    Meine Zunge, mein Gaumen, der Rachen, alles war so trocken und pelzig. Und ich wollte niemand aufscheuchen. Er war nicht hier, sonst hätte er nach mir geschaut, hätte das Chaos entdeckt, mich längst wieder eingesperrt.
    Aber was wusste ich. Vielleicht ergötzte er sich die ganze Zeit an meinen Versuchen, ihm zu entkommen.
    Am Ende des Flurs auf der linken Seite, fast schon im ganz Dunkeln, wartete die Tür auf mich, die wichtigste. Von dieser Seite aus schützte den Ausgang keiner dieser mächtigen Riegel, und ich hoffte, ich betete, dass sie nicht abgeschlossen war.
    Meine Hand lag schon auf dem Knauf – es war keine Klinke, sondern eine Kugel, so groß wie ein Tennisball –, meine Hoffnung flatterte schon, hoffentlich ließ er sich drehen, hoffentlich, hoffentlich. Ich zügelte meine Ungeduld und presste zuerst das Auge an das Schlüsselloch.
    Es war fast nichts zu erkennen. Allerdings herrschte auch keine totale Dunkelheit. Ein mattblaues Schimmern, mehr war nicht zu erkennen. Durch die Öffnung zog ein süßlicher Geruch, intensiv, blumig, aber auch chemisch, aber ich spürte nichts, nicht wie sonst, wenn meine Nase mich durcheinanderbrachte. Vielleicht hatten sich meine Sinne, mein ganzer Körper auf einen Notfallmodus geschaltet.
    Ich musste an die Duftbriefmarken denken, an den Moment im Bus, an den alten Mann neben mir, die Fotos. Es schien so lange her. Wie lange? So lange konnte es nicht sein.
    Meine Finger krallten sich um das Metall des Türknaufs. Dreh ihn herum, flüsterte es in mir, dreh ihn, aber ich fühlte, wie sich etwas in mir löste. Zu früh, zu früh, du bist noch nicht draußen, wehrte sich mein Innerstes, aber es war zu spät. Ich stand an dieser Tür, hielt den Griff und tauchte in den Gedanken und Sehnsüchten unter, die ich mir seit meinem Aufwachen so streng und erfolgreich vom Leibe gehalten hatte.
    Felix, seine Lippen, seine Hände. Ich spürte sie auf meinem Körper, an den Füßen, wie er mit seinen Marzipanfüßchen an den meinen geschubbert hatte, im Wasser der Pferdetränke.
    Du wirst verrückt, Josie, öffne die Tür, Füße, Marzipan.
    Ich sackte zusammen. Meine Hand immer noch an dem Knauf sank ich auf den Boden, Lachen, Tränen, Wortfetzen. Erinnerungen. Hysterie. Ich erlebte zum ersten Mal, was es wirklich bedeutete, wenn man zu einem hysterischen Nervenbündel mutierte.
    Vielleicht nahm das die bittere Enttäuschung und das Entsetzen vorweg, das sich eigentlich beim Betreten des Raums hätte einstellen müssen. Als ich es endlich geschafft hatte, den Knauf zu bewegen, öffnete sich die Tür.
    Das blaue Schimmern rührte von einer ganzen Reihe von Bildschirmen. Überwachungsbildschirme, vier kleine, etwas größer als Schuhkartons und quadratisch und ein Flatscreen von über einem Meter Seitenlänge. Die Geräte standen rund um einen ausladenden Tisch, auf dem sich auch zwei Computermonitore befanden, eine Tastatur, eine Maus, ein zugeklappter Laptop, eine Schalttafel mit Knöpfen, auf denen Nummern standen. Es wirkte wie die Zentrale einer Sicherheitsabteilung im Kaufhaus, wie ich sie einmal bei einem Praktikum gesehen hatte. Hierher also wurden die Bilder der Kameras in meiner Zelle übertragen.
    Der ganze Raum machte einen aufgeräumten Eindruck. Mehrere Duftbäume verströmten den Geruch, den ich schon vor
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