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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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    Ich erkannte den Tod am Geruch. Kaum jemand in meinem Alter hatte schon so oft mit ihm zu tun gehabt, aber man gewöhnte sich daran. Der Geruch des Todes tat nicht weh, nicht so wie andere Gerüche.
    Lange Zeit hatte ich wegen dieser Sache mit den Gerüchen geglaubt, ich sei verrückt, irgendwie sonderbar. Ich nahm Gerüche wahr wie andere eine Berührung, einen Windhauch, das Brennen der Augustsonne auf der Haut. Beim Betreten von Frau Sudermanns Zimmer spürte ich den Tod.
    In den ersten Minuten fügte er dem Gemisch der Ausdünstungen in diesem Haus etwas hinzu, das man nicht verwechseln konnte. Trocken und mehlig fühlte er sich an. Der Tod schnitt nicht, er brannte nicht, stach nicht; weich war er, wie Mehl an den Händen.
    Frau Sudermanns Zimmer lag im Dunkeln; nur das grüne Licht über der Tür warf einen schwachen Schein; es war der rechteckige Kasten mit dem Männlein, das durch eine offene Pforte abhauen will. Notausgang. Dahinter konnte man noch die Umrisse eines Kruzifixes erkennen, das vor ein paar Wochen den Sicherheitsvorschriften hatte weichen müssen. Den alten Leuten hatte das Kreuz wahrscheinlich mehr gebracht, die meisten konnten sowieso nicht mehr fliehen, wenn es brannte – mit oder ohne Notausgangszeichen.
    Frau Sudermann hatte sich ihren Notausgang gesucht, das wusste ich sofort. Mehlig. Trocken. Warum bei mir?, fragte ich mich, warum starben die alten Leute so gerne, wenn ich da war?
    Wie schon vor ihr drei andere Bewohner in diesem alten Schuppen, der den protzigen Namen
Fürstlich Bergfeldscher Stift
trug, hatte sie sich ausgerechnet meine Schicht ausgesucht, um von einer Welt abzutreten, die sie sowieso nicht mehr verstand, einer Welt, die mit der in ihrem Kopf in nichts mehr übereinstimmte.
    Sie hatte unter ganz und gar unfürstlichen Bedingungen ihre Zeit abgesessen. Irgendwann war mir klargeworden, dass meine abendlichen Besuche ein, wenn nicht sogar
der
Höhepunkt jeder Woche waren, immer dienstags. Nur diesen Tag konnte Frau Sudermann richtig benennen, wenn man sie danach fragte. Ihr Jahr hatte nur noch 52  Tage gehabt, die sie unterscheiden konnte; die Dienstage mit mir.
    In der Schule verstand niemand, warum ich die Stelle angenommen hatte.
    Es sei eklig mit den stinkenden Alten, das klebe doch an einem, hatte Sarah gemeint, und in den blauen Kitteln sähe ich wie ein Müllsack auf Beinen aus, von der miesen Bezahlung ganz zu schweigen. Aber es war der einzige Job, für den ich die Erlaubnis meiner Eltern bekam. Wenn ich neben der Schule arbeiten wollte, gab es nur diese Möglichkeit.
    Ich mochte Frau Sudermann. Hatte sie gemocht. Sie würde mir fehlen.
    Mit einem Kichern hatte sie sich abends auf die Seite gedreht, damit ich ihr Kissen aufschütteln und das Laken geradeziehen konnte. Ich hatte ihr Löffel für Löffel Haferbrei mit Zimt eingeflößt, ihre immer noch vollen, aber nun grauen Haare gebürstet und geflochten oder gewartet, während Frau Sudermann ihr Geschäft auf dem Toilettenstuhl erledigte.
    Nur wenn sie von Karl sprach, schien sie völlig klar zu sein.
    Ich brauchte einige Zeit, bis ich verstand, wer dieser Karl war. Es war nicht der alte Herr, der gemeinsam mit Adele auf den Familienfotos zu sehen waren, die über ihrem Bett hingen. Karl war ihr Liebhaber gewesen.
    An diesem Abend wusste ich schon, bevor ich die Klinke zu Frau Sudermanns Zimmer losgelassen hatte, dass sie keine Wünsche mehr haben würde. Sie war auf dem Weg zu Karl.
    Ich schaltete nicht die Deckenlampe ein. Die alte Dame fürchtete sich vor dem grellen Schein der Leuchtstoffröhren. Ich zündete eine der geweihten Kerzen an, die die Nonnen von ihren Fahrten in einen französischen Wallfahrtsort mitbrachten. Im sanften Schein der Flamme setzte ich mich zu Frau Sudermann auf die Bettkante.
    Ihr Kopf war auf die Brust gesackt, wodurch sie nicht mit offener Kinnlade dasaß, glücklicherweise, denn für mich war dies das Schlimmste: Nicht der starre Blick, nicht die eingefallenen Wangen machten mir Angst, sondern dieser dunkle Schlund, der sich öffnete, wenn jemand starb. Durch ihn machte sich die Seele aus dem Staub, irgendwo musste sie ja raus, und andere Fluchtwege fand ich für eine Seele ein bisschen widerlich. Schwester Theofila, die kaum jünger als Frau Sudermann war, wickelte immer eine Mullbinde ums Kinn der Toten und verknotete sie auf dem Scheitel, was auch aus dem stolzesten Menschen einen Hampelmann mit Schleifchen auf dem Kopf machte.
    Ich hielt die magere Hand der Toten. Sie
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