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Schwarze Fluten - Roman

Schwarze Fluten - Roman

Titel: Schwarze Fluten - Roman
Autoren: Dean Koontz
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    Als ich an meinem zweiten ganzen Tag als Gast in Roseland kurz vor Sonnenuntergang über den weitläufigen Rasen zwischen dem Haupthaus und dem Eukalyptuswäldchen schlenderte, blieb ich auf einmal instinktiv stehen und drehte mich um. Der große schwarze Hengst, der auf mich zustürmte, war das mächtigste Pferd, das ich je gesehen hatte. In einem Rassebuch hatte ich es als Friesen identifiziert. Die blonde Frau, die darauf ritt, trug ein weißes Nachtgewand.
    Lautlos wie ein Gespenst trieb die Frau das Pferd an. Auf Hufen, die keinen Laut von sich gaben, preschte der Hengst durch mich hindurch, ohne eine Wirkung zu hinterlassen.
    Ich habe gewisse Talente. Abgesehen davon, dass ich ein ziemlich guter Grillkoch bin, habe ich gelegentlich prophetische Träume. Und wenn ich wach bin, sehe ich manchmal die Geister von Toten, die aus unterschiedlichen Gründen zögern, ins Jenseits weiterzuziehen.
    Pferd und Reiterin, die schon lange tot und in unserer Welt nur noch Geister waren, wussten gut, dass niemand außer mir sie sehen konnte. Nachdem sie mir bereits zweimal am Vortag und einmal an diesem Morgen in der Ferne erschienen waren, hatte die Frau offenbar beschlossen, diesmal um alles in der Welt meine Aufmerksamkeit zu erregen.
    In einem weiten Bogen jagten Ross und Herrin um mich herum. Als ich mich drehte, um ihnen mit dem Blick zu folgen, galoppierten sie erneut auf mich zu, blieben jedoch abrupt vor mir stehen. Der Hengst bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen lautlos in die Luft. Mit seinen geblähten Nüstern und rollenden Augen strahlte er derart gewaltige Kraft aus, dass ich rückwärtstaumelte, obwohl ich doch wusste, er war so immateriell wie ein Traum.
    Wenn ich sie berühre, sind Geister für mich körperhaft und warm wie Wesen, die am Leben sind. Ich aber bin das für sie nicht, weshalb sie mir weder das Haar zausen, noch mir einen tödlichen Schlag versetzen können.
    Weil mein sechster Sinn meine Existenz ziemlich kompliziert macht, versuche ich, mein Leben ansonsten einfach zu gestalten. Ich habe weniger Habseligkeiten als ein Mönch. Ich habe keine Zeit und Muße, an einer Karriere als Grillkoch oder als irgendetwas anderes zu arbeiten. Ich mache nie Pläne für die Zukunft, sondern schreite einfach in sie hinein, mit einem Lächeln im Gesicht, Hoffnung im Herzen – und aufgestellten Nackenhärchen.
    Wilde rote Bänder aus Blut liefen über das weiße, mit Spitze verzierte Seidengewand der blonden Schönheit, die barfuß und ohne Sattel auf dem Friesen saß. Auch ihr langes Haar war blutverschmiert, obwohl ich keine Wunde ausmachen konnte. Ihr Gewand war bis an die Hüften hochgerutscht, die Knie hatte sie an die schwer atmenden Flanken des Hengstes gepresst. Mit der linken Faust umklammerte sie dessen Mähne, als hätte sie sich selbst im Tod an ihrem Pferd festhalten müssen, damit die beiden Geister vereinigt blieben.
    Wäre es nicht undankbar, ein Geschenk zu verschmähen, dann würde ich meinen übernatürlichen Blick sofort zurückgeben. Ich wäre damit zufrieden, meine Tage mit der Zubereitung von Omeletts zu verbringen, bei denen ihr vor Vergnügen stöhnen würdet, und mit dem Backen von derart luftigen Pfannkuchen, dass selbst die sanfteste Brise sie von eurem Teller wehen würde.
    Allerdings ist jedes Talent unverdient und mit der Pflicht verbunden, es so vollständig und weise einzusetzen wie nur möglich. Würde ich nicht an diese heilige Pflicht glauben, so wäre ich inzwischen bereits so verrückt geworden, dass ich für zahlreiche hohe Regierungsposten infrage käme.
    Während der Hengst auf seinen Hinterbeinen tanzte, streckte die Frau den rechten Arm aus und deutete auf mich, als wollte sie sagen, sie wisse, dass ich sie gesehen hatte, und habe mir eine Botschaft zu überbringen. Ihr wunderschönes Gesicht war grimmig vor Entschlossenheit, und in den kornblumenblauen Augen leuchtete zwar kein Leben, aber dafür große Qual.
    Als sie abstieg, sprang sie nicht zu Boden, sondern schwebte von ihrem Pferd und schien über das Gras in meine Richtung zu gleiten . Von ihrem Haar und ihrem Nachtgewand verschwand das Blut, und sie erschien nun so, wie sie im Leben vor ihrer tödlichen Verwundung ausgesehen hatte. Vielleicht fürchtete sie, die grausigen Flecken würden mich abstoßen. Sie hob die Hand an mein Gesicht, als wäre es ihr, einem Geist, schwerer gefallen, an mich zu glauben als umgekehrt. Ich spürte die Berührung.
    Hinter ihr versank die Sonne im fernen Meer.
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