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Schwarze Fluten - Roman

Schwarze Fluten - Roman

Titel: Schwarze Fluten - Roman
Autoren: Dean Koontz
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Darüber glühten merkwürdig geformte Wolken wie eine Flotte aus alten Kriegsschiffen, deren Masten und Segel in Flammen standen.
    Als ich sah, wie der qualvolle Ausdruck der Frau sich in eine zaghafte Hoffnung verwandelte, sagte ich: »Ja, ich kann dich sehen. Und wenn du es zulässt, kann ich dir helfen, auf die andere Seite zu gelangen.«
    Sie schüttelte heftig den Kopf und trat einen Schritt zurück, als fürchtete sie, ich könnte sie mit einer Berührung oder einem Zauberspruch von dieser Welt lösen. Aber eine solche Kraft habe ich nicht.
    Ich glaubte, den Grund für ihre Reaktion zu verstehen. »Man hat dich ermordet, und bevor du diese Welt verlässt, willst du dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht.«
    Sie nickte, schüttelte dann jedoch den Kopf, als wollte sie sagen: Ja, aber nicht nur das.
    Da ich mit den Verstorbenen vertrauter bin, als mir eigentlich lieb ist, kann ich euch aus langer persönlicher Erfahrung sagen, dass die Geister der zögerlichen Toten nicht sprechen. Ich weiß nicht, warum. Selbst wenn sie brutal ermordet worden sind und verzweifelt versuchen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen, sind sie nicht in der Lage, mir wichtige Informationen mitzuteilen, ob telefonisch oder von Angesicht zu Angesicht. Sie senden auch keine SMS -Nachrichten. Vielleicht liegt das daran, dass sie sonst etwas über den Tod und die Welt im Jenseits verraten würden, das wir Lebenden nicht wissen sollen.
    Jedenfalls kann der Umgang mit den Toten noch frustrierender sein als der mit einer ganzen Reihe von Lebenden, was erstaunlich ist, wenn man in Betracht zieht, dass es Lebende sind, die in der Kfz-Zulassungsstelle ihr Unwesen treiben.
    Ohne im letzten direkten Licht der versinkenden Sonne einen Schatten zu werfen, stand der Hengst mit hoch erhobenem Kopf da, stolz wie ein Patriot beim Anblick der geliebten Flagge. Das Einzige, was im Wind wehte, war jedoch das goldene Haar seiner Herrin, und grasen würde er erst wieder auf Wiesen, die nicht von dieser Welt waren.
    Die Frau trat wieder auf mich zu und blickte mir so intensiv ins Gesicht, dass ich ihre Verzweiflung spüren konnte. Sie bildete mit den Armen eine Wiege, die sie hin- und herschwang.
    »Ein Baby?«, fragte ich.
    Ja.
    »Dein Baby?«
    Wieder nickte sie, um dann den Kopf zu schütteln.
    Die Frau runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Sie zögerte, bevor sie die Hand ausstreckte und sie knapp eineinhalb Meter über den Boden hielt.
    Da ich mit den Rätseln von Geistern inzwischen ziemlich gut vertraut bin, ahnte ich, dass sie die heutige Größe ihres Kindes anzeigte, das jetzt kein Baby mehr war, sondern neun bis zehn Jahre alt. »Es ist nicht mehr dein Baby «, sagte ich, »sondern dein Kind .«
    Sie nickte heftig.
    »Dein Kind ist noch am Leben?«
    Ja.
    »Hier in Roseland?«
    Ja, ja, ja.
    Die Farbe der am Himmel lodernden Wolkenschiffe verwandelte sich aus einem feurigen Orange in blutiges Rot, während der Himmel langsam in Violett überging.
    Als ich fragte, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handle, bejahte die Frau Letzteres.
    Obwohl mir hier bisher kein Kind begegnet war, sah ich die Qual, die das Gesicht der Frau zerfurchte, und stellte die naheliegende Frage: »Und dein Sohn ist hier … in Schwierigkeiten?«
    Ja, ja, ja.
    Ein ganzes Stück östlich des Haupthauses befand sich, hinter einem Wäldchen aus Lebenseichen verborgen, eine mit Unkraut überwucherte Reitbahn. Ein verfallener Zaun umrahmte sie.
    Die Ställe hingegen sahen aus, als wären sie erst letzte Woche errichtet worden. Merkwürdigerweise waren sämtliche Boxen makellos rein. Kein Strohhalm und keine einzige Spinnwebe waren darin zu sehen, nicht einmal Staub. Offenbar wurde der Boden regelmäßig geschrubbt. Angesichts der Sauberkeit und einem Geruch, so frisch und rein wie der eines Wintertags nach einem Schneefall, wurden dort schon seit Jahrzehnten keine Pferde mehr gehalten. Offensichtlich war die Frau in Weiß schon lange tot.
    Wie konnte ihr Kind dann erst neun oder zehn Jahre alt sein?
    Manche Geister erschöpft ein längerer Kontakt mit mir, oder er strengt sie zumindest dermaßen an, dass sie für Stunden oder Tage verschwinden, bevor sie wieder genug Kraft gesammelt haben, um zu erscheinen. Der Wille dieser Frau schien jedoch stark genug zu sein, um ihr Bild aufrechtzuerhalten. Plötzlich aber, als ein Schimmern in die Luft trat und ein seltsames zitronengelbes Licht die Landschaft überflutete, waren sie und der Hengst – der
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