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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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war noch nicht kalt. Wir warteten gemeinsam.
    «Josie?»
    Ich schreckte auf und zog meine Hand zurück, woraufhin Frau Sudermanns Arm kraftlos nach unten baumelte. Einen Herzschlag lang bildete ich mir ein, die Gestalt im Bett habe gesprochen. Ich nahm das leblose Körperteil und bettete es auf die Wolldecke, die Frau Sudermann in besseren Zeiten selbst gehäkelt hatte.
    Die Deckenlampe flammte auf. Ich kniff die Augen zu.
    «Mein Gott, schon wieder?», sagte die Person an der Tür.
    Ich erkannte die Mutter Oberin. Sie trug die schlichte Arbeitskluft der Schwestern, einen fast bis zum Boden reichenden Rock aus grauer Wolle, eine hochgeschlossene Bluse, darüber eine taubenblaue Schürze. Die nach hinten gekämmten und zu einem straffen Knoten gebundenen Haare verliehen Schwester Martha nicht die Strenge, die sie sich wünschte. Sie war Ende vierzig, wirkte aber deutlich jünger. Sie kramte ein Smartphone aus der Kitteltasche hervor.
    «Du wirst noch unser Todesengel», sagte die Schwester.
    Ich zuckte bei diesem Wort zusammen. Noch vor kurzem hatte ich einen Zeitungsartikel gelesen, in dem es um eine Pflegerin ging, die so bezeichnet wurde. Sie hatte ein ganzes Dutzend Senioren aus dem Weg geräumt, aus Mitleid, wie sie vor Gericht behauptete. Allerdings stellte sich heraus, dass die Raffgier größer als das Mitleid gewesen war: Sie hatte Schmuck, Bargeld und Sparbücher mitgehen lassen.
    «Doktor Wiener? Totenschein, ja», hörte ich die Schwester ins Telefon sprechen. «Frau Sudermann, vor …», sie schaute mich fragend an.
    «Sie muss eben erst eingeschlafen sein», sagte ich.
    Ich sagte immer
eingeschlafen
, weil für mich alle anderen Begriffe gnadenlos klangen. Von uns gegangen, verschieden, das Zeitliche gesegnet und noch schlimmer: den Löffel abgegeben oder ins Gras gebissen, was Sarahs Lieblingsausdruck dafür war.
    «Halbe Stunde, ja, bis später», beendete die Chefin des Pflegeheims das Gespräch. «Du kannst gehen, ich kümmre mich um alles.» Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: «Dein Verehrer wartet sicher schon.»
    Ich konnte den Schreck nicht verbergen. Mit etwas zu offenem Mund stand ich etwas zu lange vor ihr. Ich hätte eine von Schwester Theofilas Schleifen brauchen können.
    Das spöttische Lächeln im Gesicht der Mutter Oberin bestätigte es: Ich weiß es, Josefa Sonnleitner, ich weiß es!, stand hinter diesem Lächeln. Du hast versucht, es zu verheimlichen, vielleicht kannst du deinen Eltern etwas vormachen, aber mir entgeht nichts.
    Ich hatte nicht die geringste Lust, darüber auch nur einen Ton von mir zu geben, also lächelte ich sie nur an, strich Frau Sudermann noch einmal eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ging. Wie sollte eine Nonne etwas davon verstehen? Eine Braut Gottes, wie sie sich selbst oft bezeichnete.
    Im Erdgeschoss verstaute ich die Kittelschürze, die ich bei der Arbeit tragen musste, in meinem Spind und raffte meine Klamotten. In der Küche füllte ich ein Glas an dem steinernen Spülbecken und stürzte das Wasser mit ein paar großen Schlucken runter.
    Nachdem die hintere Tür, die direkt aus der Küche in den Garten des Stifts führte, in meinem Rücken mit einem satten Plopp ins Schloss gefallen war, lehnte ich mich für ein paar Atemzüge an das raue Holz. Alles in dem alten Gebäude war massiv, fest, gewaltig.
    Der Regen hatte eine kurze Pause eingelegt. An der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einiger Goldregenbüsche raschelte etwas.
    Ich zog die Klammer aus dem Knoten, der meine Haare im Nacken festhielt, schüttelte sie aus, holte zweimal tief Luft und überquerte den Kiesweg, der hinunter zur Landmarkstraße führte. Ich saugte die vom Regen gereinigte Luft in meine Lungen und rannte zur Bushaltestelle, weil Bugsie mit dem letzten 143 er oberhalb von Berlages Hof um die Ecke bog. Der Regen prasselte wieder los. Er schlug die gelben Blüten von den Goldregenbüschen.
    Jemand trat aus dem Schatten.

2
    Er konnte sich nicht an den Geruch gewöhnen, das störte ihn. Die Belüftungsrohre brachten zwar genug Sauerstoff herein, aber die modrige Feuchtigkeit hing trotz aller Bemühungen im Raum. Wenn er den Duftspender aus dem Drogeriemarkt voll aufdrehte, dominierte das künstliche Aroma von Lavendel, aber sie bekam davon Kopfschmerzen.
    Es hatte ihn viel Arbeit gekostet, das Zimmer so schön herzurichten für sie, einfach war das nicht gewesen. Wie sollte man sich in ein Wesen wie sie hineindenken?
    Fühlen, hineinfühlen
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