Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
Vom Netzwerk:
Spitze eine Frau mit blonden Haaren, kaum größer als ich. Sie gab dem Mann an ihrer Seite, einem großen Japaner mit Igelfrisur, ein Zeichen. Er blieb stehen, auch die beiden anderen blieben ein paar Schritte zurück.
    «David», sagte die Frau, «Sie wissen, dass es hier endet.»
    Sie sprach ihn jetzt mit dem Vornamen an. Ihre Stimme war ganz ruhig, fast kalt, aber nicht drohend. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich gerade zum ersten Mal seinen Namen gehört hatte. Bisher war er ein namenloser Fremder für mich gewesen. David Wester.
    «Oh, filmreife Worte», hörte ich ihn hinter dem Stamm. «Lernt man so etwas auf der Polizeischule, oder gucken Sie etwa auch amerikanische Krimis im Fernsehen?»
    Ein Klicken und ein ratschendes Geräusch folgten. Er lud die Schrotflinte nach. Plötzlich sprang er auf, feuerte einen Schuss ab, direkt über mir. Ich schrie. Drei der Polizisten sprangen hinter Bäume, der Japaner warf sich auf den Boden.
    Er legte das Gewehr neben sich, fasste mich mit beiden Händen und zerrte mich auf seine Seite des Stamms. Meine Gegenwehr erstickte er im Ansatz, indem er mir einen Arm auf den Rücken drehte. Der Schmerz schoss von meinem Schultergelenk durch den ganzen Körper. Er griff sich sofort die Waffe und drückte sie mir unter das Kinn.
    Lena wimmerte leise vor sich hin. Sie krallte sich in die halb verrottete Rinde des Baums und zog sich ebenfalls zu uns herüber. Wester beachtete sie nicht. Mit einem Stöhnen kullerte sie neben mir auf den Waldboden und blieb liegen.
    Ich sah, wie die Polizistin den anderen ein Zeichen gab. Sie zogen sich zurück. Die Polizistin blieb jedoch stehen, zog ihre Jacke aus. Sie warf sie auf den Boden und legte ihre Pistole darauf.
    «Wester, hören Sie, ich bin jetzt unbewaffnet. Meine Kollegen gehen hinunter zu den Baracken. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. In ein paar Minuten ist ein Sondereinsatzkommando hier, dann geht gar nichts mehr. Lassen Sie es uns vorher regeln, okay?»
    «Was sollte es zu regeln geben?»
    Sie setzte sich auf einen Baumstumpf. «Sie haben hier Ihre Kindheit verbracht, oder?»
    «Kindheit?», antwortete er. Er lachte hysterisch und warf den Kopf in den Nacken. Dabei drückte sich der Stahl des Laufes tiefer in die weiche Haut unter meinem Kinn. Ich verkniff mir jeden Laut.
    «Wo wollen Sie jetzt hin?», fragte die Polizistin. «Mit Ihrer Frau … und Ihrer Tochter.»
    Ich spürte, wie er bei den letzten Worten den Griff kurz lockerte, nur den Bruchteil einer Sekunde, dann packte er wieder fester zu.
    «Wenn Sie sich einen Ort wünschen dürften? Wo wäre das? Wo würden Sie einen neuen Anfang machen? Mit Josie und Lena?»
    Er zitterte. Die Hand, die sich um meinen Unterarm schloss, zitterte. Das Metall auf meiner Haut zitterte. Ich hoffte nur, dass seine Finger, die den Abzug hielten, nicht zitterten. Sein Atem strich heiß über meinen Nacken, als er ein paarmal tief Luft einsaugte und sie wieder ausstieß. Für eine Antwort blieb ihm keine Zeit.
    Das Geräusch kam aus dem Nichts. Es klang dumpf, zuerst schmatzte und dann knackte es. Seine Stirn schlug gegen meinen Hinterkopf, ich kippte ein paar Zentimeter nach vorne, im selben Augenblick löste sich ein Schuss. Ich spürte, wie die Patrone kaum einen Fingerbreit an meiner Wange vorbei in den Himmel gefeuert wurde, der Knall zerriss mein rechtes Trommelfell.
    Wester sackte zur Seite. Kopfüber kippte er auf den von Blättern und trockenem Moos gepolsterten Waldboden. Sein Hinterkopf färbte sich rot. Blut rann über seine Wange. Sein Ohr war nicht mehr zu erkennen.
    Das Dröhnen in meinem Kopf wurde von den Schreien Lenas übertönt. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Steinbrocken, ebenfalls rot und blutig, mit der linken stützte sie sich an dem Baumstamm ab.
    Ich wälzte mich zur Seite, um aus seiner Reichweite zu kommen, aber er rührte sich nicht. Er lag da, versuchte, den Kopf zu heben.
    «Das Gewehr», kreischte Lena, und noch einmal: «Das Gewehr!»
    Es lag direkt vor mir. Ich streckte die Hand aus, aber Wester war schneller. Er hatte den Lauf schon ergriffen, als ich die Finger um den Schaft krallte. Mit den Unterarmen stützte er sich auf, wollte die Beine anziehen, um auf die Knie und dann auf die Füße zu kommen. Der Schlag war hart gewesen, er schwankte.
    Ich zog an der Waffe, um ihn weiter aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber er ließ nicht los. Das Blut strömte über seinen Hals. Er nutzte meinen Widerstand und zog sich am Gewehrlauf hoch, trotzdem gab ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher