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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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ihn nicht frei. Mit beiden Händen umklammerte ich das Holz des Schaftes. Die beiden Rohre waren auf seinen Bauch gerichtet.
    «Schieß, schieß doch», kreischte Lena.
    Greif mit einer Hand nach vorne, leg den Finger um den Abzug, drücke ab. In meinem Kopf, durch den weiter der Hall des letzten Schusses hin und her und hin und her schlug, formierte sich der Gedanke. Schritt für Schritt. Hand, Finger, abdrücken.
    Die Bewegung überraschte ihn. Ich legte so viel Kraft wie möglich in sie. Aus dem Stand beschleunigte ich, hielt die Waffe fest in beiden Händen und rannte los. Nach vorne. Die Läufe bohrten sich in seinen Bauch. Er schrie, fiel rückwärts, schlug mit dem Kopf gegen den Baumstamm.
    Seine Finger lösten sich.
    Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
    Jemand fasste mich am Arm, schob ihn vorsichtig nach oben. Mein Finger lag noch immer am Abzug. «Josie, gut, es ist alles gut», sagte die Polizistin.

67
    Ich saß auf der Eckbank in unserer Küche und schaute hinaus auf die Wiesen. Am Zaun hinter unserem Garten standen ein paar Rinder auf der Weide, müde rupfte eine Kuh ein paar Grashalme aus. Der Bach führte kaum Wasser; die lang anhaltende Trockenheit hatte immer noch kein Ende gefunden. Mir war trotzdem kalt. Am liebsten hätte ich eine Decke aus dem Kasten unter mir geholt und mich eingewickelt.
    Die Wochen seit meiner Rückkehr hatten mich seltsam kaltgelassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die besorgten Blicke, manche neugierig, andere einfach gierig nach der Geschichte, dem Drama, dem Schweiß der Angst, den sie an mir schnuppern wollten – es kam nicht an mich heran, nur das Gefühl zu frieren, bei mehr als dreißig Grad, das blieb.
    Lediglich in Felix’ Armen taute ich auf. Dann flossen die Tränen.
    Meine Mutter hantierte mit den Kaffeetassen, räumte sie von rechts nach links, stellte sie auf den Tisch und nahm sie wieder weg, während mein Vater unbeweglich auf einem der Stühle saß und ein Gespräch mit Felix in Gang zu halten versuchte.
    Es war fast schon rührend. Seine Mühe, Felix ein gutes Gefühl zu vermitteln, es ihm geradezu aufzudrängen, ging völlig daneben, aber der Wille zählte, und auch Felix verstand das.
    Ich wusste, dass unsere Gespräche nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus nur ein Anfang waren – wenn überhaupt. Und er wusste es auch. Ein Anfang, vielleicht aber auch der Beginn des Endes. Ich war tatsächlich nicht ihr leibliches Kind, zumindest damit hatte Wester recht gehabt.
    Seltsamerweise nahm ich meinen Eltern nicht wirklich übel, dass sie mir nichts von der Adoption gesagt hatten, und ich fragte mich auch keine Sekunde, ob ich lieber die Tochter von Lena Zusak gewesen wäre. Die Antwort wäre wahrscheinlich nein gewesen.
    Sie war zurück in ihr altes Leben gegangen, ein erster Versuch, miteinander zu telefonieren, war gescheitert. Uns verband nichts, außer der gemeinsamen Zeit in einem Verlies, außer David Wester, einem Mann, den wir nur vergessen wollten. Beide. Jede für sich.
    Andere Fragen bewegten mich mehr. Ob Sarah wieder auf die Beine kam, ob wir uns zusammen durchs Abitur mogeln konnten, ob Felix und ich eine Zukunft hatten.
    Sarah war aufgewacht und sollte in ein paar Tagen von Rotterdam in eine Reha-Klinik verlegt werden, nicht weit von hier, sodass ich sie regelmäßig besuchen konnte. Mit viel Ausdauer und Arbeit würde sie es schaffen, hatten die Ärzte gesagt. Mir traten beim Gedanken an sie jedes Mal die Tränen in die Augen.
    Felix nahm meine Hand. «Wird schon schiefgehen», sagte er.
    Ich nickte, wischte mir die Tränen weg und schaute auf die Uhr über der Spüle.
    «Sie hat vier Uhr gesagt», beruhigte Felix mich, «es ist knapp vor, die Uhr geht falsch.»
    Im selben Augenblick hörte ich das Auto draußen in der Einfahrt. Es hielt an, die Tür schlug, die Klingel schrillte durchs Haus. Mama klapperte wieder mit den Tassen, aber bevor sie in den Flur gehen konnte, um zu öffnen, sprang ich auf.
    «Ich mach das schon.»
    Mein Vater erhob sich auch. «Soll ich …»
    «Nein.» An der Haustür atmete ich noch einmal durch. Ich öffnete. «Frau van Wahden …», sagte ich. Weiter kam ich nicht. Ich konnte es in ihren Augen lesen. Mir wurde schwindelig. Sie reichte mir die Hand, und wir setzten uns draußen auf die Stufen.
    «Er ist es nicht», sagte die Polizistin.
    Ich hatte in den letzten Wochen mehr mit ihr gesprochen als mit allen anderen. Warum das mit einer Kommissarin besser ging als mit Ärzten, Psychologen,
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