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Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht
Autoren: Masako Togawa
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Prolog
    Sie saß allein in einer Nische im ersten Stock der Bar und schaute aufs Erdgeschoß hinunter. Durch den dichten Zigarettendunst konnte sie undeutlich erkennen, daß der Kellner in seiner weißen Jacke neben dem Eingang stand und der Barkeeper hinter der Theke unter ihr einen Cocktail-Shaker schüttelte. Die übrigen Gäste saßen entweder an der Theke oder in den Nischen im Erdgeschoß; die gedämpfte Beleuchtung machte sie fast unsichtbar. Auch hier oben gab es eine Bar, hinter der der Mixer sich die Zeit damit vertrieb, Gläser blank zu wienern; an der Ecke der Theke steckten zwei junge Männer die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander.
    Niemand schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Sonst wäre er wahrscheinlich zu dem Schluß gekommen, daß dieses Mädchen, das kein Make-up trug und nicht viel älter als zwanzig sein konnte, nicht gerade wie ein typischer Bargast aussah. Als sie vor wenigen Minuten hereingekommen war, hatte sie eigenartig verstört gewirkt. Unten war kein Platz mehr frei, also stieg sie die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Die Stufen schienen unter ihren Füßen wie Meereswogen auf und ab zu schwappen; sie trieb auf ihnen wie ein leeres Boot. Das Geschnatter, die Musik, die Lärmkulisse einer betriebsamen Bar wichen von ihr zurück; sie war in einer eigenen, einsamen Welt gefangen, die so schwarz war wie Pech.
    Sie beugte sich vor, nahm ihr halbleeres Glas und stürzte den wie kalter Tee aussehenden Inhalt in einem Zug hinunter. Das war ihr dritter Whisky heute abend — der dritte in ihrem ganzen Leben. Er wärmte ihre Kehle, und ihr Kopf wurde leicht. Sie stand auf und ging an die Theke, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um nicht zu schwanken oder zu fallen.
    Der Barkeeper hob den Kopf, sah das leere Glas in ihrer Hand und lächelte.
    »Sie wollen wohl Ihren Kummer ertränken?«
    Sie lächelte zurück. Schließlich kostete es nichts, nett zu ihm zu sein, und außerdem hatte sie nicht die geringste Vorstellung, was sie tun sollte, wenn sie die Bar verließ.
    »Startklar für den vierten? Ich bring' ihn gleich rüber.« Er gab vor, den Drink auf ihre Rechnung zu setzen, ließ es in Wirklichkeit aber bleiben. Den konnte sie genauso gut umsonst haben.
    Sie schenkte ihm noch ein Lächeln, drehte sich um und kehrte an ihren Tisch auf der Galerie zurück. Dank dieser freundlichen Geste fühlte sie sich plötzlich viel wohler. >Bevor ich geh', muß ich ihm eine Schachtel Zigaretten geben<, dachte sie.
    Kurz darauf erschien er mit einem vollen Glas, stellte es zusammen mit einer frischen Schale Erdnüsse vor ihr auf den Tisch und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war. Wieder war sie allein.
    Wenn sie die Augen schloß, sah sie immer noch grelle rote und grüne Lichter, doch das scharfe metallische Klingeln in ihrem Kopf hatte schon nachgelassen. Nach einer Weile hörte sie sogar Musik, aber es war ihr unmöglich zu sagen, ob die Klänge von außen oder aus ihrem Kopf kamen. Im Grunde war es ihr auch egal; sie ließ sich durch ihre private Welt treiben und schlug dabei mit den Füßen den Takt. Eins zwei drei, eins zwei drei... sie identifizierte die Musik als eine fröhliche Polka, die Instrumente als Geige und Gitarre.
    >Wie habe ich diese Melodie einmal geliebt<, dachte sie. >Damals, als ich noch keine Sorgen hatte; da war ich noch glücklich.< Sie begann leise vor sich hinzuweinen, und es dauerte eine Weile, bis sie merkte, daß die Musik sich geändert hatte; zuerst hörte sie einen Walzer, dann einen undefinierbaren Rhythmus.
    Und dann vernahm sie die Bassstimme, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr vergessen sollte. Sie war edel und wunderschön — wie eine Kirchenorgel. Sie kroch auf sie zu, schlug an ihre Füße, stieg immer höher, erreichte ihr Herz. Sie erkannte das Stück — es war Zigeunerleben von Schumann.
Im Schatten des Waldes, im Buchengezweig, 
    Da regt's sich und raschelt und flüstert zugleich. 
    Es flackern die Flammen, es gaukelt der Schein 
    Um bunte Gestalten, um Laub und Gestein.
    Die Stimme hatte die erste Strophe auf Deutsch gesungen und wiederholte sie jetzt auf Japanisch.
    Sie war tief und traurig, gefühlvoll und einfühlsam. Sie übertönte das grobe Lallen der Betrunkenen und den schrägen Sopran der Bardamen, die sich größte Mühe gaben mitzusingen. Wer konnte das sein? Sie schlug die Augen auf, die sie überwältigt geschlossen hatte, und spähte über das Geländer der Galerie. Sie konnte jedoch nur zwei
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