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Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht
Autoren: Masako Togawa
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schnürte sich vor Zorn auf den Unbekannten zusammen, der so leichtfertig eine Neunzehnjährige geschwängert hatte. Die Tatsache, daß der Mann unbekannt war, verstärkte seine Erbitterung noch. >Wenn sie meine Tochter wäre<, dachte er, >würde ich den Kerl jagen, zur Strecke bringen und ihm genau die Strafe zukommen lassen, die er verdient.«
    Aber in solchen Fällen war es genauso schwer, den Täter zu ermitteln, wie bei einem Mörder. Der Gedanke deprimierte ihn. Man konnte im Grunde gar nichts tun; er begann schon zu bereuen, daß er der Schwester sinnloserweise von Keikos Schwangerschaft erzählt hatte.

ERSTER TEIL
Die Jagd
I
    Im Sommer werden die Bars und kleinen Restaurants in Kabuki-Cho, Shinjuku, gegen vier Uhr nachmittags von den ersten Gästen besucht. Das Geschäft läuft zu dieser Stunde allerdings nur sehr mäßig; man hat gerade erst geöffnet, die Klimaanlage macht ihrem Namen noch keine Ehre, die Böden glänzen feucht vom Putzwasser. Die wenigen Gästen rotten sich am Ende der Theke zusammen und vertiefen sich in das ernste Geschäft des Trinkens; keinesfalls feiern sie zu dieser Tageszeit oder werfen Wandermusikern Geld in den Rachen.
    Dieses fahrende Volk taucht für gewöhnlich erst nach acht im Vergnügungsviertel auf. Doch eines Tages machte sich ein Geiger, bereits seit seiner Kindheit als »Ossan« oder »der alte Knabe« bekannt, schon früher auf den Weg und durchforstete das Gebiet bereits um sechs, als die Sonne noch hoch am Himmel stand. Er hatte sich nämlich den vergangenen Tag frei genommen und brauchte dringend Geld. Sowohl die ausgelatschten Schuhe des alten Knaben mit ihren papierdünnen Sohlen als auch die Sandalen seines Musikerkollegen waren dick mit Staub bedeckt.
    »He! Alter Knabe!« Sie kamen gerade an der Boi Bar direkt hinter dem Koma-Theater vorbei, als ein Kellner herausschoss und ihnen hinterherbrüllte. »Hier ist jemand ganz versessen auf Musik. Sie will unbedingt 'nen Geiger.«
    »Sie will wirklich einen Geiger? Na sowas!« Heutzutage schien niemand mehr Geigen hören zu wollen, alle waren verrückt nach Gitarren. Sie folgten dem Kellner in die kühle und fast leere Bar.
    Er führte sie an den Tisch einer Frau mit dunkler Sonnenbrille und breitkrempigem Hut. Der alte Knabe verbeugte sich vor ihr.
    »Was darf ich für Sie spielen, meine Dame?« Er musterte das Gesicht seiner Auftraggeberin und bemerkte dabei den großen Leberfleck an ihrer Nase.
    »Können Sie Zigeunerleben?«
    »Oh, wenn sie was Klassisches hören möchten, da kann ich Ihnen alles mögliche vorspielen.«
    »Dann legen Sie mal los. Lassen Sie hören.« Ihre Stimme klang sonderbar tonlos.
    Während er sein Instrument aus dem Koffer holte, fiel dem alten Knaben ein, daß ihm ein paar Kollegen von einer Frau mit diesem Sonderwunsch erzählt hatten. Bedauerlicherweise hatte keiner von ihnen das Stück gekannt, denn sie hatte 1000 Yen geboten, nur für diese eine Melodie. Das hier mußte diese Frau sein! Der alte Knabe war in klassischer Musik viel besser als in moderner Musik, und als der Gitarrist die Saiten anschlug, flocht er die Melodie mühelos ein.
    Die Frau saß einfach da und lauschte. Sie machte nicht den geringsten Versuch mitzusingen. Trotzdem, betrunken war sie nicht, nur seltsam. Als sie zum Ende kamen, sagte sie bloß: »Noch mal.«
    Der alte Knabe tat, wie ihm befohlen, und fragte anschließend: »Wie wär's jetzt mit was anderem?«
    Doch die Frau schwieg. Und wie seltsam die war — vielleicht sogar verrückt! Da saß sie hier in einer Bar in Shinjuku mit einer Sonnenbrille und einem riesigen Hut, als wäre sie am Strand! Es war unmöglich, ihre Miene zu erkennen.
    Schließlich brach sie ihr Schweigen; ihre Stimme klang künstlich. »Spielen Sie das oft?«
    »Na ja, es wird nicht gerade oft gewünscht.«
    »Aber ab und zu spielen Sie es doch?« Ihr Ton war fast aggressiv, als ob sie eine Antwort verlange. >Die Sorte kenn ich<, dachte der alte Knabe. >Ist sicher Kindergärtnerin, die sind alle so!<
    »Früher hab ich's oft gespielt«, sagte er laut.
    »Und in letzter Zeit? So vor einem Jahr zum Beispiel?«
    Die Frage war so absurd, daß sich der Alte ein Lachen nicht verkneifen konnte.
    »Wenn Sie es sagen — ich meine, ich arbeite jeden Tag und weiß wirklich nicht, was ich wann gespielt habe! «
    »Natürlich wissen Sie es. Es war genau in dieser Bar. Hier.« »Hier?«
    »Ja, im Boi, im Erdgeschoß. Ein Mann und eine Frau sangen dazu, immer nur zu diesem Lied, mehrmals
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